„Die Entwicklung einer Vision gleicht mehr einer Expedition als einer Bergbesteigung“

Foto: Wistahler Photography

Was einer nicht schafft, das schaffen viele. Aus dieser Überzeugung ist eine ganz besondere Zukunftsvision entstanden: NEULAND Pustertal. Der Visionsprozess glich einer Expedition in unbekanntes Gelände. Zukunftsinstitut (ZI), Raika Bruneck und RCM Solutions haben in einer beispielhaften Kooperation an der Zukunftsgestaltung einer wunderschönen, optimistisch gestimmten Region gearbeitet: zielstrebig, motiviert und mit viel Emotionalität und Weitblick.

Das Pustertal steht seit Corona vor nie erlebten Herausforderungen. Eine positive Zukunftsperspektive war gesucht: das Projekt NEULAND Pustertal wurde ins Leben gerufen. Als Kooperationspartner zur Visionsentwicklung haben Sie sich für das Zukunftsinstitut entschieden. Was waren die Gründe dafür?

Dr. Georg Oberhollenzer: Tägliche Hiobsbotschaften und Horrormeldungen haben den Beginn der Krise in Europa geprägt. Vor allem in Italien schien die Katastrophe übermächtig und die Zahlen der Infizierten stiegen andauernd. Zu diesem Zeitpunkt bin ich auf den Artikel „Die Welt nach Corona“ von Matthias Horx gestoßen – und es war wohltuend positiv, seinen Überlegungen zu folgen. Er spricht im Text von Regnose statt Prognose – es geht also um eine Rückbesinnung, eine Bestandsaufnahme dessen was da ist, und um ein Innehalten, bevor man weiterhastet. Wir wollten uns trotz der schwierigen Situation auf ein Zukunftsszenario konzentrieren. Das Zukunftsinstitut als Partner des Südtiroler Beraterunternehmens RCM Solutions mit Christoph Koch war für dieses Ansinnen die richtige Wahl. Wir haben gewusst, dass wir schon heute alles unternehmen müssen, um die Zukunft nach der Krise positiv gestalten und durchstarten zu können. Zwischenfinanzierungen, Stundungen von Darlehen und ein Notstandfonds sowie die sofortige Unterstützung für das Krankenhaus waren erste Maßnahmen der Raika, deren Geschäftsführer ich seit Anfang 2020 bin. Wir haben Soforthilfe auf finanzieller Ebene geboten. Dann ging es aber auch um einen Plan für einen gemeinsamen Neubeginn, zu dessen Ausarbeitung alle eingeladen wurden.

Eine Aussage des Zukunftsinstituts besagt, dass eine Krisenzeit genau der richtige Zeitpunkt für Visionen ist. Mit welcher Motivation sind Sie an die Visionsentwicklung herangegangen?

Oberhollenzer: Vor der Krise haben wir uns alle in einer Art Hamsterrad befunden „Das ZI hat uns verständlich gemacht: auch wenn man das Ziel nicht kennt, braucht man eine Vision, die motiviert.“ – das wurde aber kaum wahrgenommen, denn alles funktionierte einigermaßen, oft sogar gut. Wenn alles läuft, ist man nicht angetan, sich Alternativen zu überlegen, was man ändern und verbessern könnte. Durch den Lockdown kam dann mit einem Mal ein erzwungenes Innehalten. Viele Menschen haben diese Zeit als wohltuende Entschleunigung empfunden. Man hatte plötzlich Zeit für sich, für die Familie, für Freunde. Diese Situation hat die Krise als den Moment gezeigt, in dem man ein neues Bild für die Zukunft entwickeln kann. Genau damit haben wir begonnen.

Das Projekt Neuland ist in hohem Maße partizipativ gestaltet. Grundlage für die Arbeit war eine umfassende Befragung aller regionalen Player: Arbeitnehmer, Unternehmer, Sozialpartner und politische Vertreter. Aus den Ergebnissen des Online-Fragebogens entwickelten sich Themencluster, die dann zur Basis für das Vision Paper wurden. Welche Rolle hatte das Zukunftsinstituts dabei?

Oberhollenzer: Die Entwicklung einer Zukunftsvision gleicht mehr einer Expedition als einer Bergbesteigung. Bei einer Bergbesteigung ist das Ziel klar, und wenn das Ziel bereits klar ist, arbeitet man an einer Strategie. Eine Expedition hingegen begibt sich in unbekanntes Terrain. Deswegen haben wir das Projekt „NEULAND“, nicht „NEUSTART“ genannt. Von Anfang hat sich niemand von uns eingebildet, wir wüssten, wie‘s geht. Das ZI hat uns verständlich gemacht: auch wenn man das Ziel nicht kennt, braucht man eine Vision, die motiviert. Wir haben die Besten mit auf den Weg genommen und sind mit ihnen durch alle Schichten durchgegangen. Das ZI begleitete den ganzen Prozess hochprofessionell, durch Struktur, Analyse und Einbeziehen der individuellen Situation.

Die Methodik der Visionsentwicklung folgt einem erprobten Rezept und arbeitet, neben analytischer Daten- und Faktenauswertung, mit emotionalen Inhalten. Ausgangspunkt ist die Überzeugung, dass alle Entscheidungen, also auch unternehmerische, stets auf Basis von Emotionen getroffen werden. Idealerweise entstehen sie aus der klaren Vorstellung, wer man in Zukunft sein will. Waren Sie überrascht darüber, welche emotionalen Hintergründe sich gezeigt haben?

Oberhollenzer: Das Thema Emotionen hat uns überwältigt. Zunächst wollten wir eigentlich Lösungen im Außen finden – und dann kam das ZI mit einem Fragebogen, in dem es um persönliche Gefühle wie Stolz, Scham, Mitgefühl oder sogar Schadenfreude geht. Der Fragebogen war nicht einfach auszufüllen. Man muss bereit sein, sich seine Emotionen zunächst einmal bewusst zu machen und dann auch noch preiszugeben und mit anderen zu teilen!

Wie wurde die Vision entwickelt?

Oberhollenzer: Vision kann man nicht erfinden, man kann sie nur finden. Es war wichtig, möglichst viele Menschen in die Visionsentwicklung einzubinden. Eine Überlegung zu Beginn war, wie wir die Menschen in Zeiten von Corona beteiligen konnten. Trotz anfänglicher Skepsis haben wir festgestellt, dass partizipative Methoden, die man online verwenden kann, sich besonders gut eignen, wenn persönliche Zusammenkünfte nur sehr eingeschränkt möglich sind. Wir haben mit dem ZI eine anonyme Umfrage entwickelt und an 400 ausgewählte Teilnehmer und Teilnehmerinnen geschickt. Dann arbeiteten wir gemeinsam mit dem ZI an der Auswertung. Besonders hilfreich sind Methoden der Grounded Theory, die mit einem systematischen Sammeln und Analysieren der Daten beginnen und daraus eine realisierbare Methode entwickeln. Es geht nicht um abstrakte Theorie, sondern beobachtbare soziale Phänomene und Erfahrungen. Darauf aufbauend wurde dann der Vision Room abgehalten.

Wie haben Sie diese intensive Arbeit unter Corona-Bedingungen erlebt? Das Projekt wurde ja von verschiedenen Standorten aus digital koordiniert und entwickelt.

Oberhollenzer: Das war ein weiteres Learning: Trotz Corona muss man nicht auf intensive Begegnungen und Austausch verzichten. Obwohl bei der Kooperation mit dem ZI alles digital abgewickelt wurde, war man sich auch über große Distanzen sehr nah.

Valeria Romme vom ZI sagte, sie sei zwar nie im Pustertal gewesen, aber sie hat inzwischen das Gefühl, sich dort genau auszukennen.


Oberhollenzer: Man kann tatsächlich unglaublich viel vermitteln. Es hat alles hervorragend funktioniert. Das wird uns auch weiterhin als neues Verhalten begleiten: Man muss sich nicht unentwegt zu Besprechungen treffen und dazu lange Distanzen überwinden. Man kann zu speziellen Anlässen zusammenkommen und diese Begegnungen bewusster gestalten. Corona hat uns also gezeigt, dass wir dank moderner Technik zwar mit sozialem Verzicht umgehen müssen, aber daraus kein sozialer Verlust entstehen muss. Ohne digitale Medien wären wir tatsächlich abgeschieden gewesen – zu Beginn des Lockdown durfte man sich tatsächlich nur 200 Meter vom Haus weg bewegen. Bis dahin hat man oft über die „verteufelte neue Technik“ geflucht – diese wurde nun zum Segen für viele.

Zukunftsvisionen zwingen dazu, zu überlegen, was man aus der Vergangenheit in die Zukunft mitnehmen will und was nicht. Bei der Analyse der Corona-Folgen wurde nach möglicherweise versteckten Chancen gesucht, die eine Krise ja auch mit sich bringt. Auf welche Ressourcen sind Sie gestoßen?

Oberhollenzer: Viele Dinge sind uns bewusst geworden. Einerseits ist viel positive Energie vorhanden. Die Menschen im Pustertal gelten als zielstrebig, beflissen, hartnäckig, sie lassen sich nicht unterkriegen – typische Merkmale eines Bergvolks mit allen Vor- und Nachteilen. (lacht) Eine klare Konsequenz der Entschleunigung ist die Entscheidung, dass wir uns künftig gegen Overtourism stark machen. Es geht einfach nicht, dass Gäste stundenlang im Stau stehen und manche Täler sogar gesperrt werden, weil zu viele Menschen dort sind. Die ganze Hektik ist gleichbedeutend mit unachtsamem Umgang und Übernutzung der Ressourcen, sowohl der Umwelt als auch der Menschen. Der mit dem ZI beleuchtete Megatrend Neo-Ökologie passt da ganz genau. Man möchte Verantwortung für das schöne Tal übernehmen und das Modewort Nachhaltigkeit darf kein Lippenbekenntnis sein.

Wie wird das als Vision fassbar?

Oberhollenzer: Der Schlüssel für unsere Vision sind unsere alten Werte die eine neue Bedeutung erhalten. Wichtig ist eine Konzentration auf’s Lokale, aber dadurch ziehen wir uns nicht zurück aus der Welt. Durch die Möglichkeiten der Digitalisierung erweitern wir uns international und global. Dafür steht der Megatrend Globalisierung bzw. die Glokalisierung – diese Trends sind bezeichnend für das Pustertal.

Welche weiteren Erkenntnisse hat die Ausarbeitung der Megatrend-Analyse gebracht?

Oberhollenzer: Zwei weitere, für das Pustertal bestimmende Megatrends sind Individualisierung und New Work. Individualisierung zeigt sich in der großen Wahlmöglichkeit von Lebens- und Kooperationsformen. Und zu New Work ist zu sagen: Während der Krise und auch weiterhin wird vielfach wissensbasiert, von unterschiedlichen Orten, oft im Home Office gearbeitet. Der gesamte Visionsprozess steht für New Work in Reinkultur.

Nach dem Visionsprozess wurde ein Arbeitsbuch erstellt, das es jedem Unternehmer/jeder Unternehmerin ermöglicht, die Zukunft des eigenen Betriebs gemäß der gemeinsam entwickelten Vision für das Pustertal zu gestalten. Wie kam es zum Erstellen eines Arbeitsbuches mit praktischen Übungen?

Oberhollenzer: Es ist ein haptisches, physisches Ergebnis des Visionsprozesses, außerdem ein interaktives Medium, denn das Buch wird nur fertig durch die Mitarbeit der Leser und Leserinnen. Es ist leicht zugänglich, locker geschrieben und mit extra angefertigten Karikaturen des lokalen Künstlers Peppi Tischler illustriert, die Alltagssituationen humorvoll auf den Punkt bringen. Es gibt Arbeitsaufgaben, Fragestellungen und Anregungen. Wir wollten ein konkretes Produkt, etwas, das speziell von Pustertalern für Pustertaler entwickelt wurde. Das Arbeitsbuch ist das Gegenteil von einem abstrakten Management-Buch. Das war für uns als Raika besonders stimmig. Für unsere Mitglieder und Kunden stehen genossenschaftliche Werte wie Solidarität und Verantwortung im Mittelpunkt. Und das Motto von Friedrich Wilhelm Raiffeisen war „Hilfe zur Selbsthilfe“. Menschen das Werkzeug zu liefern, mit dem sie selbst ihr Leben verbessern können. Für das Arbeitsbuch haben wir viel an den Formulierungen gefeilt. Eine Aussage trifft die Aufbruchstimmung besonders genau: „Wir wollen nicht an alten Stiefeln festhalten“. Sie passt so gut, dass wir sie ins Arbeitsbuch aufgenommen haben. Das Buch bietet Anregungen für die typischen Unternehmer und Unternehmerinnen des Pustertals – das sind meist kleine Familienbetriebe, Handwerker, Bäcker. Die Intuition der Unternehmer wird nun durch das ZI wissenschaftlich hinterfragt und mit der Analyse von Megatrends hinterlegt.

Wie wurde das Arbeitsbuch angenommen? Gab es bereits erste Impressionen?

Oberhollenzer: Allein die Ankündigung hat schon vor der Herausgabe ein sehr positives Feedback erhalten und in allen Medien wurde darüber berichtet. Es war ein deutliches Zeichen der Ermutigung. Das Buch wird ausschließlich mit persönlicher Beratung vergeben. Mit der Vorstellung der Vision gab es einen zweiten, ebenfalls sehr positiven Impact.

Welche konkreten Auswirkungen hat das Arbeitsbuch in der Region? Welcher Mehrwert wird für das Zielpublikum geschaffen?

Oberhollenzer: Das Buch ist so gestaltet, dass es auch jenseits von Corona aktuell bleibt. Es folgt keinem strengen Aufbau, man muss es also nicht von vorne bis hinten durchlesen. Man kann es immer wieder zur Hand nehmen und damit arbeiten. Gegen Ende wird es etwas akademischer – es verbindet Theorie mit sehr viel Praxis. Um die Erfolge sichtbar zu machen, arbeiten wir auch mit Rückmeldungen zum Arbeitsprozess. Ende des Jahres werden wir Success Stories sammeln.

Welche Tools des Visionsprozesses haben aus Ihrer Wahrnehmung die wichtigsten Erkenntnisse mit sich gebracht?

Oberhollenzer: Das Zusammenspiel von Befragung, Diskussionen und Feedback sowie die Kombination der Methoden waren grundlegend für den Erfolg.

Wie haben Sie die Ergebnisse der Zusammenarbeit mit dem Beraterteam des Zukunftsinstituts in Ihr Unternehmen implementiert?

Oberhollenzer: Uns war wichtig, ein konkretes und konstruktives Produkt in Händen zu halten. Wir waren das erste Unternehmen im Pustertal, das mit dem Arbeitsbuch effektiv „gearbeitet“ hat. Dazu haben wir das Management versammelt und gemeinsam und in Einzelarbeiten die strategischen Übungen gemacht, die Trend Canvas befüllt und Handlungsfelder abgeleitet.

Was hat aus Ihrer Sicht die Zusammenarbeit mit dem Zukunftsinstitut erfolgreich gemacht?

Oberhollenzer: Zu Beginn gab es den ein oder anderen Zweifel, zum Beispiel, ob so ein Prozess nicht für viele zu hochgestochen wirken würde. Oder ob Experten aus Wien und Frankfurt für Bruneck relevant sein können. Das wurde schnell widerlegt. Wir haben die Menschen eingebunden und im Buch eine allgemein verständliche Sprache verwendet.

Wie würden Sie die Zusammenarbeit mit dem Zukunftsinstitut in einem Satz formulieren?

Oberhollenzer: Wir haben im Rahmen einer bodenständigen professionellen und empathischen Kooperation miteinander gelacht, gestritten und diskutiert.

Rückblickend auf den Prozess: Was waren die für Sie relevantesten Erkenntnisse?

Oberhollenzer: Die Vision mit klaren Trends. Das Zielbild animiert zum Handeln und fühlt sich stimmig und richtig an. Viele haben Lust auf dieses neue Spiel, man sieht, wie die Krise Menschen zusammenschweißt und wie viel positive Energie in ihnen steckt. Die Stimmung ist getragen von der Überzeugung: „Das schaffen wir!“


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