Wer nur die digitalen Innovationen im Blick hat, läuft Gefahr, die Gesamtstrategie aus den Augen zu verlieren.
Von Janine Seitz und Theresa Schleicher
Wer nur die digitalen Innovationen im Blick hat, läuft Gefahr, die Gesamtstrategie aus den Augen zu verlieren.
Von Janine Seitz und Theresa Schleicher
Die Digitalisierung gilt als großer Heilsversprecher im Handel: Die einen testen die Grenzen der digitalen Machbarkeit, indem sie dem Kunden so nah wie nur möglich rücken, um bestenfalls schon im Voraus zu wissen, was er wirklich will. Die anderen erhoffen sich durch die neuen digitalen Kanäle mehr Kunden und bessere Umsatzzahlen, um dem schleichenden Niedergang letztendlich doch noch entgegenzuwirken. Aber was nutzen alle technologischen Errungenschaften und jeglicher digitaler Schnickschnack, wenn er nicht in den Dienst der Menschen gestellt wird?
In wenigen Jahren wird die digitale Welt eine Selbstverständlichkeit sein. Die Automatisierung von Prozessen ist zum Standard geworden, der Einsatz von Künstlicher Intelligenz ist an der Tagesordnung, Konsumenten sind hyperpersonalisierte Angebote gewohnt. Wer nur die digitalen Innovationen im Blick hat, läuft Gefahr, die Gesamtstrategie aus den Augen zu verlieren. Erfolgreich sind künftig jene Unternehmen, die die Technologie gezielt nutzen, um tatsächlich den Menschen erreichen. Nach der digitalen Transformation kommt es zu einer Rückkehr des Menschen – zum Human Retail.
Selbstlernende Maschinen und Prozesse läuten die zweite Phase der digitalen Transformation im Handel ein. Eine aktuelle Studie der Unternehmensberatung Accenture stellt durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz bis 2035 einen Anstieg des Wirtschaftswachstums um jährlich drei Prozent in Deutschland in Aussicht. Einige große Handelsunternehmen setzen sich bereits intensiv mit Künstlicher Intelligenz auseinander. Zum Beispiel hat der Multichannel-Anbieter Otto eine KI-Lösung implementiert, die bis zu zehn Wochen im Voraus mit einer Wahrscheinlichkeit von 90 Prozent vorhersagen kann, wie oft ein bestimmtes Kleidungsstück in einer bestimmten Kalenderwoche bestellt werden wird. Lernende Algorithmen werden aber auch für kleinere und mittelständische Händler immer wichtiger, wenn sie gegen die Retail-Giganten bestehen wollen.
Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz bietet in vielen Bereichen Potenzial und kann daher die gesamte Wertschöpfungskette des Handels beeinflussen. Ein Blick auf den Status quo und drei mögliche künftige Einsatzszenarien:
„Wir müssen eine Arbeit verrichten, die asiatische Wissensarbeiter nicht billiger und Computer nicht schneller erledigen können und die den ästhetischen, emotionalen und spirituellen Ansprüchen einer Wohlstandsära Genüge tut“: Diese Aussage des US-Autors Daniel Pink ist zwar schon über zehn Jahre alt, doch hat sie ihre Gültigkeit nicht nur behalten, sondern ist in den vergangenen Jahren deutlich zur Realität geworden. Denn genau diese „ästhetischen, emotionalen und spirituellen“ Märkte sind im Verlauf der Wirtschafts- und Finanzkrise eben nicht zusammengebrochen, ganz im Gegensatz zu scheinbar soliden Geschäftsfeldern wie etwa der US-amerikanischen Automobilindustrie. Denn diese Handelsmärkte haben zwei entscheidende Treiber, die sie krisenfest machen: zentrale menschliche Bedürfnisse – und Sinnhaftigkeit.
Entscheidende Basis hierfür ist die unersetzliche Empathie von Händlern und Beratern, die begeisternde Erlebnisse schaffen – etwas, nach dem sich der Mensch in einer technologiegetrieben Welt immer mehr sehnt. Diese Kür wird in Zukunft für den stationären Handel entscheidend. Die intelligente Handelslandschaft wird daher immer mehr von Vermittlern menschlicher Sehnsüchte leben – den beratenden Humanagenten, von Datendolmetschern und Kuratoren von Konsum und Konsumenten. Aus der eingespielten Symbiose von Mensch und Maschine entstehen zukünftig neue Modelle, die dem Menschen und seinen Emotionen wieder Raum geben.
Wie sieht also eine Welt aus, in der technologische Machbarkeit keine Rolle mehr spielt, weil sie längst zur Selbstverständlichkeit geworden ist, hingegen aber Kreativität, Ästhetik und Qualität an Freiraum gewinnen?
Wir erleben es im Moment sehr deutlich: (Kunden-)Daten können die Zukunft des Handels bewegen. Aber der smarte Konsum hat für den Kunden auch zur Folge, dass er sich ständig im eigenen Daten-Dunstkreis bewegt. Das verhindert Überraschungen und wirkliche Innovationen, die eben nicht auf einer konsequenten Analyse von Status-quo-Daten basieren, sondern einer disruptiven Gedankenwelt entspringen. Bei der zukünftigen Auswahl werden Empfehlungen von anderen Menschen, Querdenkern, Experten etc. und deren außergewöhnlichen Vorlieben wichtiger als je zuvor. Den Anfang machten Empfehlungen in den Social und Corporate Communities.
In Zukunft werden aktiv Empfehlungen von anderen Menschen in Verkaufsmodelle integriert und auch vermarktet, die bewusst nicht aus dem eigenen Datenpool stammen und somit Neuigkeiten und kreative Brüche beim Shopping ermöglichen. Denn der Mensch ist mehr als die Summe seiner Daten – und er hat auch in Zukunft das Bedürfnis, als Individuum gesehen zu werden und Denn der Mensch ist mehr als die Summe seiner Daten nicht nur als digitale Daten-Identität. Hierbei kommt vor allem auf den Händler eine neue Aufgabe zu: Während Maschinen die Pflicht erledigen, bleibt den Retailern Zeit, sich um Innovation und Disruption zu bemühen. Der Kundenberater an der Front wird dabei zum unumstößlichen Innovationstreiber, der die Kundenreaktionen und das Wissen um den Kunden anders einordnen und Verbesserungen antreiben kann.