Hören wir die Signale?

Warum Solidarität auch heute ein Auftrag ist und welche Themen wir am Tag der Arbeit ins Rampenlicht rücken sollten.

Ein Kommentar von Franz Kühmayer

Die Internationale, das Kampflied der Arbeiterbewegung, ist der Soundtrack zum 1. Mai: „Völker, höret die Signale“. In der Tat ist es Zeit, die Zeichen der Zeit wahrzunehmen — denn wir stehen nicht mehr vor, sondern längst inmitten der gravierendsten Veränderung der Arbeitswelt unserer Generation. Das Morgen wird sich in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik so sehr vom Heute unterscheiden, wie die monarchischen Agrargesellschaften vor der ersten industriellen Revolution von der proletarischen Industriegesellschaft danach. 

Es wäre ein fataler Trugschluss, ignorierte man das als zeitgeistige Narretei. Und doch, genau das geschieht gerade. Unsere Perspektive auf den Wandel und die Zeit danach ist geradezu naiv und auf der politischen Ebene ist überhaupt eine intellektuelle Wüste zu beklagen. 

Wenn überhaupt, findet der Diskurs entweder mit Rückgriffen auf Rezepte aus der Mottenkiste der frühen Industrialisierung statt oder mit dem Totschlagargument vom scheuen Reh des Kapitals, das beim ersten Knistern im Gestrüpp der gewohnten Ordnung das Weite sucht.

Dabei löst sich eben diese Ordnung vor unseren Augen auf. Daher brauchen wir gar kein Knistern fürchten, müssen keine leisen Töne anschlagen, sondern im Gegenteil, wir sollten ordentlich darum streiten und ringen, wie unter dem Eindruck von Digitalisierung, Robotik und künstlicher Intelligenz unsere liberale Demokratie bestehen kann, welche Rolle Arbeit für Menschen hat und wie wir damit umgehen, dass uns noch während unserer Lebenszeit die bezahlte Erwerbsarbeit ausgehen wird.

Überall tun sich Risse auf …

Der Zusammenhalt in Europa nimmt ab. Stand vor 20 Jahren noch in Aussicht, dass die EU ein stärkeres Zusammenwachsen des Kontinents vorantreiben würde, so mehrten sich in letzter Zeit eher Anzeichen eines Auseinanderdriftens. Die Betonung nationaler Partikularinteressen wird wieder größer und immer seltener werden die gemeinsamen Errungenschaften gewürdigt. 

Was auf der großen Bühne gilt, zeigt sich auch in der Gesellschaft. Dort verlaufen die Brüche und Gräben nicht mehr nur zwischen links und rechts, oben und unten, sie sind vielschichtig und allgegenwärtig: Hier angestammte Bevölkerung, dort fremde Zuwanderer; hier #Metoo, dort alter weißer Mann; hier Autofahrer, dort Radfahrer; hier Steakliebhaber, dort Veganer. Die Zielgruppen-analytischen und Sinus-Milieu-geformten Cluster lösen sich zugunsten ultra-individualistischer Moleküle auf. 

… auch in der Arbeitwelt

Auch in der Arbeitswelt zählt verstärkt die Einzigartigkeit. Innovation und Unternehmergeist stehen im Rampenlicht, und damit das Aussergewöhnliche, und letztlich der Einzelne. Das kreative Talent ersetzt den Durchschnittsarbeiter, das Normalarbeitsverhältnis wird von neuen Geschäftsmodellen und Arbeitsformen hinweggefegt.

Individualisierung ist ein hohes Gut, sie gilt im aufklärerischen Sinne als Ausbruch der Menschen aus ihrem selbstverschuldeten Elend. Es wäre jedoch trügerisch, im Lichte der unbestrittenen Vorteile einer stärker individualisierten Arbeitswelt nicht auch die Schattenseiten zu erkennen. 

Flexibilisierung kann ein enormes Befreiungserlebnis sein, der Wegfall stabiler Grenzen kann aber auch eine spürbare Belastung bedeuten, die zu Vereinsamung und interessierter Selbstausbeutung führt. Eine zunehmend flexibilisierte Arbeitswelt trägt zur Beschäftigbarkeit der Bevölkerung bei – aber auch zur Prekarisierung und Verarmung als Working Poor. Und sie bedeutet eine Fragmentierung der Interessen und damit eine Entsolidarisierung.

Radikal beschleunigt wird diese Entwicklung durch den digitalen Wandel, der völlig neue Wirtschaftszweige und Berufe entstehen läßt und dazu beiträgt, belastende, monotone Tätigkeiten zu reduzieren. Er verschärft allerdings auch die Polarisierung des Arbeitsmarktes. Manche Berufsgruppen feiern bereits jetzt Beschäftigungsrekorde und ungebremste Nachfrage, auf der anderen Seite bleibt vor allem im Segment der Niedrigqualifikation die Frage nach hoffnungsvollen Zukunftschancen letztlich ungelöst.

Mehr streiten? Ja, aber miteinander, nicht gegeneinander

Es ist eine bedrohliche Entwicklung, wenn gesellschaftliche Teilgruppen nichts mehr miteinander zu tun haben und auch keine gemeinsame Sprache mehr finden. Wer davon überzeugt ist, dass seine Sicht die einzig richtige ist und der jeweils andere aus Borniertheit Unrecht hat, orientiert sich nicht mehr an der Sache, sondern nur noch an der Gegnerschaft an sich. Dann ringt man nicht mehr um die besten Ideen, sondern hat für das Gegenüber nur noch Verachtung übrig. In einem solchen Klima kann kein Dialog und kein Kompromiss entstehen, es geht nur noch um das Besiegen des Gegners. 

Die algorithmisch erzeugten Echokammern der sozialen Medien tragen weiter dazu bei, dass der Diskurs immer weiter entgleist. Die tägliche Dosis Medienkonsum bestätigt: Das Schüren von Ängsten ist leichter und schneller zu bewerkstelligen, als sie wirkungsvoll zu entkräften. Noch dazu, wenn die zugrunde liegende Sachlage komplex und vielschichtig ist. Wo journalistische Texte nicht mehr zweifelsfrei von solchen auf Satireportalen zu unterscheiden sind, löst das Digitale unsere Wirklichkeit auf. Und damit auch unsere Fähigkeit, Lösungen zu finden.

Erkämpft das Menschenrecht!

Um die Zukunft der Arbeit sinnvoll zu gestalten, und der Gefahr der gesellschaftlichen Entsolidarisierung zu entgehen, bedarf es höherer Anstrengungen, sowohl auch auf Seiten der Politik als auch der Unternehmen. Gefragt sind daher Verantwortungsbewusstsein und ein Diskussionsstil, der mit Feuereifer um die beste Lösung ringt, und nicht darum, den Machterhalt zu sichern oder politisches Kleingeld zu wechseln.

Der 1. Mai erinnert uns daran, dass Arbeit mehr ist, als die Sicherung ökonomischer Grundlagen – ein Leitsatz, den man in Zeiten einer auf exponentielles Wachstum und Shareholder Value getrimmten Wirtschaftslandschaft nicht oft genug betonen kann. Daran knüpft sich nicht nur ein wirtschaftspolitischer, sondern ein eminent wichtiger gesellschaftlicher Auftrag. 

Solidarität entsteht nicht von selbst, sie ist keine soziologische Hypothese, der man beim Reifen zusehen kann und die man durch Beobachtung verifiziert oder falsifiziert. Sie ist ein Auftrag, und vielleicht die stärkste Botschaft der Internationale: „Es rettet uns kein höheres Wesen, kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun — uns aus dem Elend zu erlösen, das können wir nur selber tun!“

Über den Autor

Franz Kühmayer beschäftigt sich als Trendforscher, Autor und Speaker intensiv mit den Themen Leadership und New Work. Der studierte Physiker und Informatiker verbindet dabei wissenschaftliche Erkenntnisse mit seinen Erfahrungen als Top-Manager, u. a. aus seiner Zeit als Director of Business Management Europe, Middle East & Africa bei Microsoft. Als Vordenker der neuen Arbeitswelt lehrt der Experte des Zukunftsinstiuts an der Fachhochschule Wiener Neustadt sowie der Ferdinand Porsche FernFH. Kürzlich veröffentlichte Kühmayer die vierte Auflage seines Leadership Reports.

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Dieser Artikel ist in folgenden Dossiers erschienen:

Megatrend New Work

Megatrend New Work

Wie sieht die Zukunft von New Work aus, welche Entwicklungen treibt der Megatrend voran und wie wirkt der Wandel auf die Arbeitswelt der Zukunft?

Folgende Menschen haben mit dem Thema dieses Artikels zu tun:

Franz Kühmayer

Franz Kühmayer gehört zu Europas einflussreichsten New-Work-Vordenkern. Als Keynote Speaker inspiriert er zur Reflexion über Leadership, Arbeit und Kultur.