Wie Neugier die Wirtschaft voranbringt und wahre Innovateure über die Kannibalisierung des eigenen Geschäfts nachdenken müssen
Curiosity Economy: Die Wirtschaft der Neugierigen
„Wir müssen unsere Unternehmen erneuern, sonst drohen sie bedeutungslos zu werden.“ Mit diesen Worten richtete sich Susanne Klatten, Besitzerin des Chemiekonzerns Altana und Hauptaktionärin von BMW, an das Publikum des „Neuland“-Kongresses der Universität Witten/Herdecke. Es war nicht das übliche Rufen nach mehr „Innovation“ und „Change“, das die Business-Kongresse begleitet. Es war der Versuch, ein neues Bewusstsein zu schaffen. Dafür, dass sich derzeit gerade die Spielregeln fundamental ändern. Und viele es nicht mitbekommen, weil sie mit dem, was sie tun, sehr erfolgreich sind.
Aber wie lange noch? In einer zunehmend vernetzten Welt lösen sich Branchengrenzen auf und lassen neue Wettbewerber in kürzester Zeit auf den Plan treten. Wettbewerber, die mit leichtem Gepäck unterwegs sind, weil sie sich teure Infrastruktur sparen. Ein Unternehmen wie AirBnB besitzt kein einziges Hotel, organisiert aber Übernachtungen in 190 Ländern. AirBnB stellt allein die Plattform zur Verfügung, auf der die Anbieter und Nachfrager von privaten Unterkünften zusammenfinden. Mit einem ähnlichen Ansatz mischt das US-Unternehmen Uber das Taxigewerbe auf, indem es Privatleute für Chauffeurfahrten vermittelt. Auch Uber besitzt selber keine Fahrzeugflotte.
Software frisst die Welt
In Zukunft geht es immer weniger um die Hardware, sondern um den geschickten Einsatz von Software. Das gilt nicht nur für die neuen Business-Modelle aus dem Dienstleistungssektor, sondern ebenso für die Märkte der Old Economy. Das Startup Next Kraftwerke beispielsweise vernetzt Stromerzeugungsanlagen zu einem virtuellen Kraftwerk, dem Next Pool, und kann damit die gebündelte Kapazität der Anlagen auf dem Strommarkt anbieten. Die Größe eines Unternehmens wird in Zukunft über den Grad seiner Vernetzung definiert. Über die neuen Spielregeln infolge der Digitalisierung sprach kürzlich Siemens-Chef Joe Kaeser mit dem Spiegel. Sehr plakativ macht er deutlich, worum es künftig gehen wird: „Die entscheidende Frage ist: Woher kommen die Daten? Und wem gehören sie? Davon hängt ab, wer am Ende diesen digitalen Krieg gewinnt.“ (Der Spiegel 20/2014)
Der Siemens-Chef hat recht. Da draußen tobt ein digitaler Krieg. Software frisst die Welt. Während zuvor Technologie nur ein Teil der Wirtschaft war, ist sie heute dabei, die gesamte Wirtschaft umzubauen. Wer heute als Anlagenbauer tätig ist, wird morgen von seinen Kunden nicht mehr für die Maschinen, sondern für deren optimale Steuerung bezahlt. Siemens folgt diesem Ansatz, indem durch die Auswertung von Wetterdaten und Windparks berechnet wird, wann wie viel Strom zu welchen Preisen produziert wird. Durch eine automatisierte Fertigungssteuerung kann dafür gesorgt werden, dass bei günstigen Strompreisen hochenergieintensive Maschinen besonders gut mit Aufträgen versorgt werden. Wer in Besitz der Daten ist und sie geschickt auszuwerten weiß, hat gewaltigen Einfluss auf Prozesse und ganze Wirtschaftssektoren.
Die Zukunft braucht Synthetisierer
Durch die Digitalisierung mit ihren weitreichenden Folgen ändert sich auch das Anforderungsprofil von Mitarbeitern grundlegend. Ein Entwickler, der zuvor vor allem durch seine technische Expertise glänzte, muss immer mehr um die Ecke denken. Womit wird das Produkt verbunden? Welche Daten können erhoben werden? Und wie lassen sich diese Informationen im Sinne des Kunden nutzen? Anders ausgedrückt: Die Mitarbeiter müssen viel neugieriger sein als früher. Ihr Wissenshunger darf nicht beim Produkt oder bei der Anwendung in einem Geschäftsfeld enden, sondern muss darüber hinaus gehen.
Der Mitarbeiter der Zukunft ist ein Synthetisierer. Er verknüpft Wissen aus verschiedenen Bereichen. Er ist ein schillerndes Mischwesen aus einem Hacker, einem Analysten und einem Berater. Seine wichtigste Eigenschaft ist Neugier.
Diese Most-Potentials der Neuzeit sind rar gesät, und es wird ein harter Wettkampf um sie entstehen. Wer sie gefunden hat, muss ihrer Neugier einen Nährboden geben – durch geeignete Strukturen und eine entsprechende Kultur. Gerade was den letzten Punkt betrifft, tun sich die Dampfer der Old Economy schwer. Sie können nur schwer nachvollziehen, warum sich Büros in Abenteuerspielplätze für Erwachsene verwandeln. Warum beispielsweise die Mitarbeiter von Google in London zwischen Plüschsofas, Büros mit U-Boot-Türen und einem Garten mit Liegestühlen arbeiten. Die Antwort liegt auf der Hand: um mehr Geld zu verdienen. Mitarbeiter, die sich wohlfühlen, sind neugieriger, damit innovativer und machen so letztlich das Unternehmen erfolgreicher.
Neugier zieht Geld an - und umgekehrt
Die innovativsten Unternehmen entstehen derzeit nicht in Europa, sondern in den USA. Die Keimzelle des Neuen, der globale Motor der digitalen Transformation, hat seinen Sitz im Silicon Valley, wo globale Player wie Facebook, Twitter, AirBnB, Skype, Pinterest und WhatsApp entstanden. Das hat einen Der Mitarbeiter der Zukunft ist ein Synthetisierer einfachen Grund: Cash. Im Silicon Valley ist das Geld der Venture Capitalists, der Risikokapitalgeber, gebündelt. Investorenlegenden wie Marc Andreesen und Ben Horowitz, die Geldgurus der Digitalisierung, bekommen im Jahr bis zu 3.000 Ideen von Startups auf der Suche nach Finanzierung vorgestellt. Sie selber sind erfolgreiche Gründer gewesen, als sie in den Neunzigern den ersten großen Webbrowser Netscape entwickelten. Jetzt suchen sie nach Gründern, in denen sie sich wiederfinden und ihre eigene Erfolgsgeschichte fortschreiben können.
Auf diesem Prinzip basiert der Innovationsmotor des Silicon Valley. Wer einmal Geld gemacht hat, investiert es wieder in andere Ideen und zieht damit wieder Geld von weiteren Investoren, Banken und Fonds an. Dieses Geld wiederum zieht weitere Gründer mit ihren Pro- jekten an. Im Zentrum dieses enormen Geldkreislaufs steht die Neugier, unerforschtes Terrain zu betreten und disruptive Innovationen nach vorne zu bringen. Also Ideen, die bestehende Technologien, Produkte oder Dienstleistungen vollständig verdrängen können.
Keine Vision zu groß
Die Kombination aus Pioniergeist und der Aussicht auf großen Reichtum ist der Grund, warum sich im Silicon Valley über Jahrzehnte eine Geldmaschine entwickelt hat, die sich ständig selbst füttert. So zirkulieren die Milliarden nur auf wenigen Quadratkilometern und finden ihren Weg nur selten nach Europa. Viele der besten Ingenieure und Informatiker zieht es daher nach Kalifornien und nicht zu Siemens oder Daimler. Dabei sind es oft weniger die hohen Gehälter, sondern die spezielle Mentalität im Silicon Valley. Keine Idee ist zu verrückt, keine Vision zu groß. Nirgendwo sonst trifft die Neugier auf einen so fruchtbaren Boden. Aus diesem Grund machen sich europäische Unternehmen daran, mit Tochtergesellschaften oder einer Präsenz im Valley vertreten zu sein. SAP beispielsweise hat in Palo Alto, gleich neben Hewlett-Packard und Microsoft, eine weitläufige Niederlassung.
Nach Herbert Henzler, dem langjährigen deutschen McKinsey-Chef, sind es aber noch viel zu wenige. Vor allem bei der deutschen Industrie beklagt er die mangelnde Präsenz im Valley und sieht sogar „die Zukunftsfähigkeit der deutschen Wirtschaft in Gefahr“ (Herbert Henzler, zit. in Mahler 2014). Es sei gefährlich, nicht im Zentrum der digitalen Revolution vertreten zu sein.
Um zu verstehen, wie die digitale Transformation vonstatten geht und wo sich neue Investitionschancen auftun, hat der Axel-Springer-Konzern 2012 Kai Diekmann, den Chefredakteur der Bild-Zeitung, sowie zwei weitere Manager für ein Dreivierteljahr ins Silicon Valley geschickt. Sie sollten „im Austausch und durch Vernetzung mit dort ansässigen Unternehmen und Universitäten neue unternehmerische Ideen für digitales Wachstum entwickeln“, so die Mitteilung aus dem Konzern. Aus diesem Experiment hat sich mittlerweile das Visiting-Fellow-Programm entwickelt. In der Springer-Villa in Palo Alto leben und arbeiten Mitarbeiter aus Deutschland, um den Geist des Silicon Valley zu atmen, diesen mit nach Hause zu nehmen und für Knowhow-Transfer zu sorgen. „Wir schicken Journalisten und Verlagsmanager für einen Zeitraum von vier bis zehn Wochen hierher, damit sie an speziellen Projekten arbeiten können“, so Anton Waitz, der Geschäftsführer von Axel Springer Digital Ventures in Palo Alto (Anton Waitz, W&V 31/2014). Das können Forschungsprojekte, App-Entwicklungen, Kooperationen mit US-Unternehmen oder Studien in Zusammenarbeit mit der Stanford University sein.
Prio 1: Hinterfragen der eigenen Position
Ob Axel Springer oder SAP: Sie tun gut daran, die Verbindungen zwischen alter und neuer Welt zu knüpfen. Die Marktplätze der Zukunft sind global, und künftig werden sie eher im Ausland als in Europa entstehen. Unternehmen müssen daher viel neugieriger werden. Sie sollten links und rechts von ihren eigenen Branchengrenzen schauen. Sie sollten sich nicht in der Sicherheit wiegen, dass die digitale Revolution letztlich nur ein riesiger Hype ist, wie manche Wirtschaftsexperten und Unternehmensführer glauben. In den nächsten Jahren werden viele der etablierten Industrien durch neue Modelle und Dienstleistungen ersetzt, die schneller, klüger und billiger sind. „Die Grundtechnologien – also Internet, mobile Computer und die Cloud – sind inzwischen so weit fortgeschritten, dass sie sich auf so gut wie jede Industrie, jedes Problem anwenden lassen“, so Risikokapitalgeber Horowitz (Ben Horowitz, zit. in Mahler 2014).
Wenn dem so ist – und es spricht mehr dafür als dagegen –, wird eine Tugend immer wichtiger, die mit der Neugier einhergeht: das Hinterfragen der eigenen Position. Wird es das eigene Business in Zukunft überhaupt noch geben?
Wie könnte ein Internet-Startup mit einem radikal neuen Geschäftsmodell das eigene überflüssig machen? Das Wesen der Neugier ist, sich auch unbequemen Fragen und noch unbequemeren Antworten zu stellen.
The Innovator’s Dilemma - fehlende Neugier?
Ein zentrales Ergebnis der Innovationsforschung ist, dass etablierte Unternehmen fast immer beim Wettbewerb um bahnbrechende Innovationen scheitern. Sie tun sich schwer damit, einen disruptiven Technologiewandel in ihrer unternehmerischen Strategie umzusetzen. Beispiele hierfür gibt es viele. Sei es das Unternehmen Kodak, das kein Rezept für den Technologiewandel zur Digitalfotografie hatte, oder der Energieversorger RWE, der mit seinem Beharren auf Atomkraft mehr als zehn Jahre die eigene Entwicklung in Richtung Energiewende versäumt hat. Clayton M. Christensen, Professor an der Harvard Business School, hat das Scheitern der Großen in seinem Wirtschaftsbestseller „The Innovator’s Dilemma“ umfassend beschrieben.
Seine Forschungsergebnisse müssen jeden Manager nachdenklich stimmen: „Eines eint unterdessen all jene Unternehmen, die letztlich scheitern: Die Entscheidungen, die ursächlich für ihren Niedergang sind, werden zu einem Zeitpunkt getroffen, an dem diese Unternehmen als die besten ihrer Branche gelten“ (Christensen 2013, S.3). Im Kern bedeutet dies, dass vieles von dem, was man allgemein als richtiges und gutes Management wertet, unter bestimmten Konstellationen zum Misserfolg führt. Und zwar nicht, weil ihnen die Neugier fehlt, sondern weil diese zu einseitig gerichtet ist.
Die Neugier etablierter Unternehmen richtet sich vor allem auf etablierte Märkte und Kunden. Sie sind großartig darin, evolutionäre Innovation voranzutreiben, bestehende Produkte zu verbessern und aktuelle Kundenbedürfnisse zu befriedigen. Sie wurden zu den besten Unternehmen der Branche, weil sie sehr gewissenhaft die Kundenwünsche analysierten und aggressiv in jene Technologien investierten, um die Anforderungen an die nächste Produktgeneration befriedigen zu können. Das Paradoxe, das Innovator’s Dilemma daran ist, dass genau diese Faktoren auch das Scheitern der Unternehmen nach sich ziehen. „Unbedingte Kundenorientierung kann sich als fataler Fehler erweisen“, so Christensen (Christensen 2013, S.21). Denn für disruptive Innovationen interessieren sich zunächst auch nicht die Kunden etablierter Unternehmen.
Die Lähmung der Disruption
In den Anfängen eines Technologiewandels entstehen Produkte von niedriger Qualität mit bescheidenen Margen. Das geht weder mit den Qualitätsansprüchen noch mit den Kostenstrukturen und Gewinnerwartungen etablierter Unternehmen zusammen. Ebenso werden deren Kunden nicht damit zufriedengestellt. Produkte, die auf Basis disruptiver Technologien entstehen, haben andere Qualitäten. Sie sind oftmals billiger, einfacher und nicht selten bequemer. Damit werden sie von einer gänzlich anderen, neuen und anfänglich kleinen Kundengruppe geschätzt. Das ist der Grund, warum kleine Startups die besseren Voraussetzungen mitbringen, um neu entstehende Märkte zu erobern, obwohl sie meistens über weniger Ressourcen verfügen. Etablierte Unternehmen, die Investitionsentscheidungen nur auf Basis eindeutig quantifizierbarer Marktdaten treffen, sind bei disruptiven Innovationen wie gelähmt. Die Instrumente der Marktforscher und Planer greifen nicht. Finanzprognosen hinsichtlich Kosten und Umsätzen sind nicht machbar.
Um aus diesem Dilemma herauszukommen, empfiehlt Christensen einen anderen, „explorativen“ Ansatz. Dieser berücksichtigt, dass der Markt – und damit die passende Strategie – im Voraus nicht bekannt ist. „Ein solches ‚discovery based planning‘ fordert von Führungskräften eine Bewusstseinsleistung ein: Sie sollen (a) annehmen, ihre Prognosen seien eher falsch als richtig, auch sollen sie (b) nicht davon ausgehen, dass ihre Strategien greifen. Schließlich müssen Führungskräfte (c) abseits von bislang Gelerntem lernen, was mit der Entwicklung des Marktes noch gelernt werden muss.“ (Christensen 2013, S.15)
Die Frage, die sich bei Christensens Empfehlung sofort stellt: Wie führt man eine solche Bewusstseinsleistung herbei? Wie lenkt man die Neugier weg von bestehenden Kundenbedürfnissen, hin zu neuen Kundengruppen, die eine disruptive Innovation nachfragen? Und wie bringt man dies Disruptive Innovationen richten sich nicht nach den Kundenbedürfnissen von heute mit den Prozessen und Kostenstrukturen eines etablierten Unternehmens zusammen? Wenn man nicht die Strategie wählt, über Akquisitionen in neue Märkte vorzudringen, empfiehlt es sich, eine neue, unabhängige Organisationseinheit zu schaffen. Diese muss mit anderen Maßstäben und fokussiert an das neue Projekt herangehen dürfen. Dieses darf nicht mit Projekten des Stammhauses konkurrieren, wenn es um die Frage der Ressourcenzuweisung geht.
Neugier-Leadership
Durch eine unabhängige Organisationseinheit schafft ein etabliertes Unternehmen am ehesten den Spagat, analytisch-planerisch in bestehenden Märkten und intuitiv-experimentierend in disruptiven Märkten voranzugehen. Nicht zu unterschätzen ist dabei die Rolle des CEO. In allen Studien von Christensen ließ sich kein einziger Fall beobachten, in dem ein Unternehmen erfolgreich einen disruptiven Wandel vollzogen hat, ohne dass der CEO persönlich und mit voller Aufmerksamkeit dahinter stand.
Vom Management wird Neugier-Leadership verlangt. Es muss seine besten Leute zusammenrufen, ihnen Zeit und Ressourcen zur Verfügung stellen, damit diese herausfinden können, was das bestehende Geschäftsmodell zu Fall bringt. Denn das ist häufig mit disruptiven Innovationen verbunden. Ein Gesetz der Wirtschaft, das mit der digitalen Transformation an Bedeutung zunimmt, lautet: Kannibalisiere dein eigenes Geschäft, bevor andere es auffressen. Sonst ergeht es einem wie der Musikindustrie, die zu lange am Geschäftsmodell der Tonträger festgehalten hat. Die Neugier muss sich vor allem auf den eigenen Untergang richten, damit dieser nicht eintritt.