Der Kulturwissenschaftler Daniel Hornuff über Kreativität als Sehnsucht und als Belastung sowie über den Zusammenhang des Kreativitätshypes und der moralischen Bewertung von Kreativität. – Ein Auszug aus der Trendstudie Free Creativity
„Wir müssen das Mantra der Selbstverwirklichung aufgeben“
Kreativität scheint zu einem Schlüsselbegriff in der heutigen Zeit geworden zu sein – alles und jeder soll und will kreativ sein. Was sind Ihrer Ansicht nach die Gründe für diese Entwicklung?
Zum einen gibt es heute fast kein Tätigkeitsfeld mehr, das nicht an die kreativen Potenziale der Mitarbeitenden appellieren würde. Erfolgreich zu arbeiten scheint daher immer auch zu bedeuten, besonders wagemutig zu agieren oder scheinbar ausgefallene Wege zu beschreiten. So gewinnen viele den Eindruck, dass Kreativität eine Art Schlüsselkompetenz sein müsse, ohne die eigentlich nichts mehr läuft. Zum anderen bedient die Anrufung der Kreativität ein tiefes menschliches Bedürfnis: Die Sehnsucht nach Sinnstiftung, nach einem substanziellen Mehrwert, der über ein bloßes Gewinnstreben hinausreicht. Kreativität wird vor diesem Hintergrund als qualitatives Surplus gesehen, mit dem sich persönliche Veranlagungen verwirklichen lassen.
Was ist Kreativität in Ihren Augen? Was zeichnet einen kreativen Menschen aus?
Ich bin kein Anhänger der Auffassung, die davon ausgeht, dass man Kreativität als menschliche Eigenschaft deuten könne. Das machen zwar die allermeisten, aber im Grunde gelingt es nie, diese Eigenschaft belastbar nachzuweisen. Ja ich halte es sogar für vermessen, definieren zu wollen, wo Kreativität beginnen und wo sie enden soll. Daher sehe ich Kreativität eher als Etikett, das Menschen für ein bestimmtes Handeln aufgeklebt wird. Wenn wir jemandem Kreativität unterstellen, dann nehmen wir eine bestimmte Wertung vor. Beispielsweise sagen wir: Diese Person war kreativ, weil sie auf überraschende und unvorhersehbare Lösungen kam. Die Wertsetzung liegt nun darin, dass wir das Überraschende und Unvorhersehbare für wichtig erklären – und daraus ableiten, dass es ein kreativer Akt gewesen sein muss, der solche Lösungen hervorgebracht hat. Kreativität zu identifizieren hat daher immer auch etwas von einer Verschwörungstheorie.
Wo ist der Unterschied zur Innovation?
Die Grenzen sind fließend, weil Kreativität und Innovation in einem ganz engen Bezugsverhältnis zueinander gedacht werden. Behauptet wird, dass vor allem kreative Menschen Innovationen schaffen könnten – und dass umgekehrt Innovationen neue Anlässe zur kreativen Arbeit erzeugen müssten. Das verbindende Glied zwischen Kreativität und Innovation ist also die meist völlig verkrampfte Fokussierung auf das Neue – als Ideal, als Produkt oder als Lebensform. Es ist der Glaube an die Wichtigkeit eines permanenten Fortschritts, der das mentale Fundament für die beiden Superbegriffe Kreativität und Innovation bildet.
Was glauben Sie: Wo hat Kreativität in Unternehmen und in der Wirtschaft tatsächlich ihren Platz?
Bevor wir uns über den Einsatz der Kreativität in Unternehmensstrukturen immer weiter die Köpfe zerbrechen, sollten wir einen Schritt zurücktreten – und fragen, warum ständig alle von Kreativität sprechen, wo doch niemand so recht angeben kann, was diese Kreativität eigentlich sein soll. Ich empfände es als riesigen Gewinn, wenn Unternehmen den Mut fänden, der Kreativität umfänglich Adieu zu sagen: In Stellenausschreibungen kein Hinweis mehr auf kreative Kompetenzen! Keine oberpeinlichen Kreativitätsworkshops mehr, in denen die Mitarbeitenden auf Kindergartenniveau an irgendetwas rumbasteln sollen! Und: Bitte weniger Kreativitätsrhetorik in den bildungspolitisch festgelegten Kompetenzzielen – denn dort manifestiert sich ganz wesentlich, was dann später als diffuse ökonomische Ressource beschworen wird.
Denken Sie, dass Kreativität ein essenzielles Ziel von schulischer Bildung sein sollte?
Daran anknüpfend und um es klar zu sagen: Nein. Das heißt nicht, dass ich für ein positivistisches Bildungssystem plädieren würde, ganz im Gegenteil: Auseinandersetzungen mit handwerklichen Fertigkeiten, historischen Themen, literarischen, musikalischen, bildnerischen und darstellerischen Angeboten müssen gefördert, gefordert und weiter ausgebaut werden – aber eben nicht unter dem Label der Kreativität! Wir meinen immerzu, Kreativität setze Energien frei und entlaste – und vergessen dabei, dass die permanente Rede von der Kreativität ebenso zur Belastung, Überforderung und zum Dauerstress führen kann. Denn letztlich macht doch jeder die Erfahrung, im Grunde nicht annähernd so kreativ zu sein, wie es allerorten verlangt oder als Norm vorausgesetzt wird.
Wenn Sie einen Blick in die Zukunft wagen – Was denken Sie wird den Anstoß dazu geben, den Hype um Kreativität zu überwinden?
Klar ist: Es braucht keine kreativen Lösungen, um die Kreativitätsfixierung zu überwinden. Stattdessen braucht es Leute, die um die Labelfunktion des Begriffes wissen und die bereit sind, ihn durch neue Wertzuschreibungen zu ergänzen. Dies gelingt allerdings nur, wenn wir entschlossen sind, Arbeit und ökonomische Wirksamkeit anders als bislang zu beschreiben. Voraussetzung wäre, das Mantra der Selbstverwirklichung aufzugeben und sich von der Faszination am sich selbst veräußernden Subjekt zu trennen. So wie sich heute viele Menschen um einen differenzierten, rücksichtsvollen, verantwortungsgeschulten Konsum bemühen, so wird auch bald auf Produktionsseite die eindimensionale Wachstumsideologie schrumpfen. Ich denke, wir erleben derzeit das allmähliche Verblassen der Kreativitätsanrufung – ohne schon hinreichend deutlich erkennen zu können, was nach dem Ende der Kreativität auf uns wartet.
Zur Person
Daniel Hornuff ist ein deutscher Kulturwissenschaftler und Universitätsprofessor. Lehraufträge führten ihn u. a. an die Universität der Künste Berlin, die Universität München, die Universität Tübingen, die Universität für angewandte Kunst Wien und das Mozarteum Salzburg. Nach einer Tätigkeit als Berater und einer darauffolgenden akademischen Mitarbeit an der HfG Karlsruhe übernahm er von 2014 bis 2018 Vertretungsprofessuren für die Fächer Kunstwissenschaft und Medientheorie. 2016 war er kommissarischer Leiter des dortigen Theoriebereichs, 2018 übernahm er die Teilprojektleitung innerhalb eines Verbundforschungsprojekts der VolkswagenStiftung. Seit 2019 ist Daniel Hornuff Professor für Theorie und Praxis der Gestaltung an der Kunsthochschule in der Universität Kassel.