Interview: Die Geografin Anne Ritzinger erklärt, wie die Weichen für die Zukunft der Dörfer heute gestellt werden (Foto: ZVG)
Frau Ritzunger, Sie forschen bereits seit einigen Jahren zur Zukunft der Dörfer in Deutschland. Was sind Ihre wichtigsten Erkenntnisse?
Dorfentwicklungsprozesse müssen beim Menschen ansetzen. Die Zukunft der Dörfer hängt vor allem davon ab, ob es aktive „Motoren“ vor Ort gibt und es ihnen gelingt eine Dorfentwicklungsstrategie zu erarbeiten, die sich am Zielsystem der Nachhaltigkeit und den örtlichen Rahmenbedingungen orientiert. Wenn dann in der Umsetzung die Akteure – Kommunalpolitik, Verwaltung, Bürgerschaft, Unternehmen und die fachlichen Begleiter wie Planer und Behörden – an einem Strang ziehen, können Dörfer zukunftsfähig werden.
Bei Dorf denken viele an Dialekt, Trachten und grasende Kühe. Was ist dran am Image des beschaulichen Landlebens?
Auch wenn es teilweise auf dem Land ruhiger zugeht als in der Großstadt: Die traditionellen Bestandteile des Landlebens verschwinden bereits seit Jahrzehnten. Arbeitsmärkte und Lebensentwürfe sind auch auf dem Land globaler, mobiler, immer weniger beschaulich, sodass der Stadt-Land-Gegensatz immer weniger sinnvoll ist. Gerade globale Verflechtungen führen aber auch dazu, dass das Lokale an Bedeutung gewinnt. Wenn die neu entdeckte Landliebe zu einem bewussteren Umgang mit Kulturlandschaft, Baukultur und zur Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe beiträgt, wird Dorfentwicklung zukunftsfähig!
Was wird die Zukunft des ländlichen Raums viel stärker prägen als wir denken?
Früher oder später werden die steigenden Kosten für Energieträger und damit auch für Mobilität einen einschneidenden Einfluss haben. Das kann zu einer Renaissance der kurzen Wege führen. Und auch zu einem weiteren Schub für den Einsatz neuer Medien. Diese bieten vielfältige Möglichkeiten für die Verbesserung der Lebensqualität in ländlichen Räumen beispielsweise im Rahmen einer lokalen Share Economy. In Estland kann man z.B. bereits sehen, wie E-Government oder Telemedizin eingesetzt werden können.
Wer wird in Zukunft im Dorf leben?
Man spricht seit einigen Jahren bewusst nicht mehr von der Entwicklung des ländlichen Raumes, sondern verwendet den Plural: ländliche Räume. Die zukünftigen Entwicklungen lassen sich nicht (mehr?) pauschal beschreiben. Oft unterscheiden sich bereits zwei Nachbarorte ganz stark. Ich glaube, diese Entwicklung wird in Zukunft noch sehr viel heterogener werden. Die amtlichen Prognosen gehen von einer alternden und schrumpfenden Bevölkerung aus. Aber es gibt auch Beispiele, in denen Dörfer Attraktivitätssteigerung und den Zuzug von Familien, Senioren, Aussteigern etc. erleben. Es hängt viel davon ab, welche Entwicklungen in den kommenden Jahren angestoßen werden!
Anne Ritzinger ist Leiterin des Referats “Bevölkerung, Sozialstruktur, Siedlungsstruktur” in der Akademie für Raumforschung und Landesplanung (ARL) in Hannover.