Interview: Dr. Jeremy Gaines, Autor und freier Berater für das Westafrikageschäft verschiedener Unternehmen, über den Boom-Kontinent Afrika
„Europa muss sich bewusst machen, wie nahe Afrika ist“
Herr Dr. Gaines, inzwischen gilt Afrika als neue Hoffnung, als Boom-Kontinent. Was hat sich im letzten Jahrzehnt verändert?
Ich bin vor allem in Westafrika unterwegs. Dort konnte man einen radikalen Wandel beobachten. Ghana und die Elfenbeinküste beispielsweise haben Erdöl- und Erdgasvorkommen entdeckt, was die Wirtschaftsstrukturen dieser Länder grundlegend verändert. Sie stellen eine völlig neue Devisenquelle dar und sind die Basis für sehr schnelles Wirtschaftswachstum. Allerdings “Die rapide wachsende Mittelschicht sorgt für eine steigende Kaufkraft” sind selbst die ökonomischen Zentren dieser Ländergröße, florierende Städte wie Accra und Abidjan, immer noch Zwerge gegenüber einer Stadt wie Lagos, deren BIP größer ist als die gesamte Wirtschaftsleistung Ghanas. Die nigerianische Megacity ist der Treiber in Westafrika. Die rapide wachsende Mittelschicht dort sorgt für eine steigende Kaufkraft. Das erkennen immer mehr Global Player und machen sich daran, diese neue Konsumentenschicht zu bedienen. Und südafrikanische Unternehmen haben in Lagos allein in den letzten zwei Jahren über ein halbes Dutzend Shopping-Center eröffnet, wo Afrikaner Flatscreens, Waschmaschinen und Computer kaufen.
Mit der wachsenden Mittelschicht werden viele Entwicklungschancen verbunden. Was treibt diese Menschen an?
Die Zahl junger, hoch qualifizierter Menschen ist sehr groß – ausgebildet in Europa und den USA. Ein Land wie Nigeria bringt aber auch selbst jährlich rund eine Million Uni-Absolventen hervor. Diese Menschen sind extrem weltoffen, viele von ihnen sprechen inzwischen fließend Mandarin. Südnigeria ist seit jeher bekannt für seinen Unternehmergeist. Die Leute dort gründen Firmen, wollen ein Haus und ein Auto besitzen, ihre Kinder auf gute Schulen schicken. Dafür sind sie bereit, viel zu geben, hart zu arbeiten und nehmen immense Schwierigkeiten in Kauf, z.B. bis zu drei Stunden Arbeitsweg. Viele Afrikaner haben ein klares Bild von ihrem Land, das künftig einlösen muss, was bisher der Westen erfüllt hat. Sie wollen nicht mehr auswandern bzw. kehren zurück. Weil sie der Überzeugung sind: Was wir im Ausland erreichen können, müssen wir doch auch in unserer Heimat schaffen. Und nicht zuletzt toleriert die junge Generation, die durch die Transparenz und das Empowerment digitaler Vernetzung selbstbewusster denn je auftritt, immer seltener Korruption, weil sie wissen, dass sie der Wirtschaft schadet und ihre Aufstiegschancen schmälert.
Welches sind die Wachstumsmärkte, die Boom-Branchen mit den größten Potenzialen?
In vielen Teilen des Kontinents kann der massiv steigende Bedarf an elektrischer Energie nur unzureichend gedeckt werden. Der Ausbau der Kapazitäten zur Stromerzeugung stellt die Voraussetzung dar, damit sich das verarbeitende Gewerbe weiterentwickelt. Rohstoffe werden zurzeit noch nahezu vollständig exportiert, es gibt z.B. kaum Erdölraffinerien. Das wird sich mittel- bis langfristig ebenso ändern wie auch Betriebe der petrochemischen Industrie Produkte aus Erdgas und Erdöl in Afrika selbst herstellen werden. Ein weiterer großer Boom, der bevorsteht: die Industrialisierung des Agrarsektors, also die Verarbeitung von Landwirtschaftsprodukten in Afrika selbst. Das ist ein Milliardenmarkt, denn der Kontinent ist sehr fruchtbar. In diesen Branchen wird die gesamte Wertschöpfungskette zunehmend auf dem Kontinent verbleiben. Daraus resultiert notwendigerweise auch eine höhere Technisierung. Auch dafür gibt es bereits viele Anzeichen.
Bei der Telefonie hat Afrika den Schritt der Festnetz-Infrastruktur übersprungen und ist gleich zu Mobile übergegangen. Gibt es ähnliche Entwicklungen, die sich schneller als erwartet vollziehen könnten?
Vielerorts arbeitet man daran, nicht nur Mobile Payment, sondern Mobile Banking zu realisieren, sodass selbst Bewohner entlegener Dörfer problemlos Zahlungen abwickeln können. Ähnliches ist im Gesundheitsbereich denkbar: Es gibt Pläne, jedem Dorf einen Skype-Link zu geben, über den Ärzte in der nächsten Stadt konsultiert werden können. Das ermöglicht eine breite Basisversorgung, ohne dass dazu eine Infrastruktur nötig ist, wie wir sie kennen.
Was muss geschehen, damit der Kontinent zu den Gewinnern des 21. Jahrhunderts zählen wird?
Einerseits müssen in vielen Ländern bürokratische Prozesse beschleunigt werden. Die Gründung einer Firma z.B. kann bis zu einem Jahr dauern. Andererseits müssen sich die Europäer bewusst machen, “Europa muss Afrikas riesige Marktopportunitäten erkennen” wie nahe Afrika liegt. Bisher haben sie es vorgezogen, nach China, Indien oder Brasilien zu gehen. Der Sprung auf den schwarzen Kontinent wäre jedoch viel leichter. Ein Flug nach Lagos dauert sechs Stunden, Containerschiffe brauchen von Bremerhaven nach Westafrika weit weniger Tage als nach Asien oder Südamerika. Europa muss die riesigen Marktopportunitäten erkennen und sehen, wie weit der Fortschritt dort bereits gediehen ist. Es bedarf eben auch eines neuen Mindsets hiesiger Unternehmer.
Wenn Sie 200.000 Euro übrig hätten: Worin würden Sie die in Afrika investieren?
Dr. Jeremy Gaines ist Autor und freier Berater für das Westafrikageschäft von Unternehmen wie Bilfinger, McKinsey oder Roland Berger. Er ist Koordinator der Nigerianisch-Deutschen Energiepartnerschaft und berät als Mitglied der 2012 gegründeten Arbeitsgruppe Energie & Strom die deutsch-nigerianische Binationale Kommission. Er hat u.a. über nachhaltige Städteplanung geschrieben (“A Manifesto for Sustainable Cities”, 2009) und zum 50. Jahrestag der Unabhängigkeit Nigerias die erste umfassende Bildbiografie des afrikanischen Landes verfasst (“Nigeria at 50”, 2011).