Sobald man etwas erreicht hat, erscheint es also redundant?
Etwas ist nur bedeutungsvoll, solange man es nicht hat. Wenn man es hat, verliert es seine Bedeutung und dann sieht man sich nach etwas Anderem um. Meist findet man dann etwas bedeutsam, das man bei der Verfolgung des ersten Zieles besonders stark vernachlässigt hat. Beziehungen beispielsweise.
Umgelegt auf die westliche Welt könnte man sagen: Wenn ein Großteil der Grundbedürfnisse bedient ist, setzt die Depression ein? Wir erreichen ein Ziel, dadurch fehlt uns dann das Ziel.
So ist es. Und das führt zu einer Irritation. Die damit einhergehende Destabilisierung wird als Angst wahrgenommen oder auch als Verunsicherung. Deshalb folgt in einer Gesellschaft nach einer Phase der Zielerreichung eine Phase, in der sich neue Zielorientierung aufbauen muss. Die ist zunächst nicht konsensfähig, weil es noch genug Teile der Gesellschaft gibt, die die alten Ziele noch weiter verfolgen wollen. Ich glaube, das ist es, was wir im Augenblick beobachten.
Was kann man in diesem Zusammenhang tun?
Aus meiner Sicht wäre die ultimative Lösung, das Formulieren von Zielen zu vermeiden. Denn Ziele haben immer diese unangenehme Eigenschaft, dass man sie erreichen kann. Man müsste gemeinsam etwas verfolgen, das man nicht erreichen kann. Ansonsten wird ein Ziel nach dem anderen erreicht und irgendwann taucht die Frage auf, wie es jetzt weitergehen soll. Was wirklich Orientierung bieten kann, ist aus meiner Sicht das „Anliegen“. Gemeinsame Anliegen zeichnen sich dadurch aus, dass sie allen Beteiligten gleichermaßen am Herzen liegen, sie auch dazu bereit sind, einiges auf sich zu nehmen. Aber Anliegen sind nicht so konkret wie Ziele. Ein Anliegen läuft darauf hinaus, dass man es eigentlich nie erreicht. Ein Anliegen das mich persönlich beschäftigt ist zum Beispiel, dass ich ein Leben in Würde führen möchte und ich die Würde von anderen Menschen nicht verletzen will. Dabei weiß ich ganz genau, dass dieses Anliegen mein ganzes Leben bestimmen kann. Abschließend erreichen werde ich es aber nie. Das ist insbesondere aus neurobiologischer Sicht interessant, weil dieses nicht zu erreichende Anliegen kohärenzstiftend wirkt.
Sind unsere Hirne aber nicht eigentlich neurobiologisch so gestrickt, dass Ziele ein sehr sinnvolles Mittel zum Zweck im Rahmen der gesellschaftlichen, menschlichen und biologischen Evolution sind? Will unser Belohnungssystem nicht Ziele?
Etwas, das wir Hirnforscher erst in den letzten Jahren verstanden haben, ist etwas ziemlich Banales: Die gesamte Arbeitsweise des Gehirns organisiert sich immer wieder selbst so, dass es mit dem geringstmöglichen Energieverbrauch am Laufen gehalten wird. In diesem Zustand der Kohärenz passt alles. Denken, ein Konflikt oder Problem treibt den Energieverbrauch in die Höhe. Das versuchen wir zu umgehen. Das Belohnungssystem
Wer ein Bewusstsein seiner eigenen Würde entwickelt hat, der ist nicht mehr verführbar
springt an, wenn es gelingt, einen inkohärenten Zustand in einen kohärenteren zu überführen. Es werden Botenstoffe ausgeschüttet, wir befinden uns in einem schönen Zustand. Die Langfristigkeit ist dem Gehirn dabei allerdings egal. Das führt leider dazu, dass wir kurzfristige „Lösungen“ bevorzugen. Deshalb kann man sich beispielsweise bei einem Partnerschaftskonflikt auch betrinken, anstatt ihn zu lösen. Dem Hirn ist das auch recht, Hauptsache, es herrscht vorerst wieder Ruhe und es wird weniger Energie verbraucht. Überlisten können wir das Gehirn mit Zielen, die sozusagen eine höhere Kohärenz ausstrahlen als all die Inkohärenzen, die unterwegs auftreten. Wenn Sie zum Beispiel Mediziner werden möchten, dann halten Sie dieses furchtbare Studium aus, obwohl es Sie dauernd in Inkohärenzen bringt. Dumm ist nur, dass man Ziele eben erreichen kann und dann geht der alte Zirkus wieder los. Deswegen braucht man Anliegen.
Wie sieht denn Ihre persönliche Utopie aus?
Es wäre eigentlich alles gut, wenn es gelänge, dass Menschen in unseren westlichen Gesellschaften anfangen darüber zu reden, was sie eigentlich unter ihrer Würde verstehen. Ich glaube Kant hat das ziemlich klar auf den Punkt gebracht: Die Würde ist eine Vorstellung von sich selbst als ein Teil einer Gemeinschaft. Das heißt Würde kann man nur über seine eigene Beziehung zu den anderen definieren. Wir werden uns, ob wir wollen oder nicht, allmählich einigen müssen, was wir eigentlich als menschlich würdevoll betrachten und was wir unter unserer eigenen Würde verstehen. Wem das gelungen ist, wer also ein Bewusstsein seiner eigenen Würde entwickelt hat, der ist nicht mehr verführbar. Und wenn Sie davon ausgehen, dass es größere Schichten in der Bevölkerung gibt, die diese Bewusstwerdung ihrer eigenen Würde durchlaufen, dann ahnen Sie, welche Konsequenzen das für eine Konsumgesellschaft hat.
Future Day 2018 - Interview Gerald Hüther