Wie kann der stationäre Handel auf den E-Commerce-Boom reagieren? Die Lösung ist „real-digital“: Lokale Online-Marktplätze können Regionen oder Städte nachhaltig stärken.
Von Janine Seitz (04/2016)
Wie kann der stationäre Handel auf den E-Commerce-Boom reagieren? Die Lösung ist „real-digital“: Lokale Online-Marktplätze können Regionen oder Städte nachhaltig stärken.
Von Janine Seitz (04/2016)
Der Aufruf „Kauf lokal”, der seit einigen Jahren zum Einkauf im Laden um die Ecke auffordert, erscheint wie eine verzweifelte Kurzschlussreaktion. Und Protestaktionen von Händlern, die ihre Schaufenster verhüllen, wirken eher wie trotzige Hilferufe, nicht wie eine Kampfansage an den E-Commerce. Und doch gibt es sie, die selbstbewussten Retailer. Denn nach dem Schreckgespenst des Showroomings (vor Ort testen und beraten lassen, dann aber online kaufen) belegen unterschiedliche Studien auch den gegenteiligen Effekt: ROPO – Research online, Purchase offline.
Klar ist: Viele Konsumenten in Deutschland informieren sich online vor dem Kauf im Laden (64 Prozent laut der PwC-Studie „Store 4.0: Zukunft des stationären Handels“). Doch beinahe genauso viele, nämlich 62 Prozent, lassen sich im Geschäft beraten, um dann online einzukaufen. Diese Pattsituation verdeutlicht: Die Zeiten, in denen sich in Schwarz-Weiß-Kategorien wie “Offline versus Online” denken ließen, sind längst vorbei. Handelsexperte Gerrit Heinemann spricht aus diesem Grund von No-Line-Handel. Weder muss der stationäre Handel dem Online-Handel den Kampf ansagen, noch umgekehrt. Das Internet und vor allem das mobile Netz sind optimale Werkzeuge, um den Kunden in den Laden zu locken. Omnichanneling-Strategien werden zum Standard im Handel. Genauso gehen immer mehr Online-Pure-Player mit einem eigenen Brick-and-Mortar-Store offline, um die Kunden vor Ort in den Einkaufsstraßen zu erreichen.
Im internationalen Vergleich zeigen vor allem die deutschen Konsumenten ein traditionelles Einkaufsverhalten, wie eine aktuelle Studie von Nielsen bescheinigt. Knapp die Hälfte empfindet den Besuch im Supermarkt als angenehm oder sehr angenehm, für 37 Prozent ist es sogar eine vergnügliches Erlebnis für die ganze Familie. Der stationäre Point of Sale ist also nicht dem Untergang geweiht, er verändert sich nur: Er wird digitaler und serviceorientierter. Künftig handelt es sich mehr um einen David-gegen-Goliath-Wettstreit: der inhabergeführte, ortsansässige Handel gegen international agierende Händler.
Städte und Gemeinden suchen schon länger nach einer geeigneten Strategie, um der Homogenisierung der Einkaufsstraßen und dem Sterben der lokalen Läden Einhalt zu gebieten. Ein Trend zur Belebung des Tante-Emma-Flairs sind lokale Online-Marktplätze. Vorreiter ist das Projekt Online-City Wuppertal: Seit Ende 2014 bieten ortsansässige Einzelhändler auf dem lokalen Online-Marktplatz ihre Produkte zum Verkauf an. Um die Plattform zu realisieren, wurde das Startup atalanda mit ins Boot geholt. Das junge Unternehmen aus Bad Reichenhall ist verantwortlich für die Infrastruktur des Online-Marktplatzes und die Same Day Delivery Logistik. Wichtiger Bestandteil des Projektes sind zudem regelmäßige Schulungen und Beratungsangebote für die Händler, wie sie den Schritt in die digitale Welt erfolgreich schaffen.
Außerdem versuchen sich die Macher der Online City Wuppertal an der Belebung leerstehender Flächen: Im Herbst 2015 wurde in der Rathaus Galerie – einem Einkaufszentrum mit starken Ankermietern, aber Trading-Down-Tendenz – das Retail Lab eingerichtet, ein Versuchslabor für innovative Handelskonzepte. Dort können Händler ihre Produkte in einem Shop-in-Shop-System präsentieren – das Konzept ist auch offen für Online-Händler. Außerdem kann dort bestellte Ware an einem Drive-in-Schalter abgeholt werden.
Das Projekt Online City Wuppertal hat Leuchtturmcharakter: In zahlreichen anderen Städten steigt das Interesse, den Einzelhändlern eine lokale Online-Präsenz zu schaffen. So brachte atalanda auch für die Städte Attendorn in Nordrhein-Westfalen, Göppingen in Baden-Württemberg und Wolfenbüttel in Niedersachsen Online-Marktplätze an den Start. Nach eigenen Angaben sind die Dienstleister mit über 100 weiteren Städten im Gespräch.
Bereits seit circa einem Jahr gibt es in der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden das Kiezkaufhaus. Die Idee ist ein Shared-Value-Projekt der dort ansässigen Werbeagentur Scholz & Volkmer, entstanden aus der Diskussion über den allgemeinen Lieferwahnsinn. Ähnlich wie die Online City Wuppertal will das Kiezkaufhaus den inhabergeführten Einzelhandel in der Stadt stärken. Auch hierfür wurde ein lokaler Online-Marktplatz eingerichtet. Teilnehmen dürfen nur Wiesbadener Fachhändler, keine Ketten. Ausgeliefert werden die Waren dann am Abend per E-Bike-Kurier. Dass noch nicht alles perfekt funktioniert, sehen die Initiatoren gelassen – das Kiezkaufhaus ist eine Herzensangelegenheit. Das große Ziel der Macher ist es, das Projekt auch in anderen Städten zu etablieren. Dafür soll das Kiezkaufhaus in ein kooperatives, genossenschaftliches oder gemeinnütziges Unternehmensmodell überführt werden.
Den lokalen Handel in Hamburg stärken – genau das möchten die jungen Macher hinter der App Findeling. Die beiden Studenten Florian Schneider und Katharina Walter kauften vor allem online ein, bis sie erkannten, dass sie viele Produkte auch beim Laden um die Ecke bekommen. Aus diesem Grund starteten sie Findeling, eine Informations- und Stöberplattform für Konsumenten, die gerne in den kleinen, inhabergeführten Geschäften einkaufen. Ihr Ziel ist es, Menschen wieder für den Besuch der kleinen Läden zu begeistern und neue Lieblingsläden in der Nachbarschaft zu entdecken.
Dass lokale Online-Marktplätze auf dem Vormarsch sind, belegt auch das Consumer Barometer 4/2015. Zwar kennt nur jeder Dritte bereits eine Stadt oder Region, in der es einen Online-Marktplatz gibt; jedoch befürworten 85 Prozent von ihnen lokale Online-Marktplätze und nutzen dieses Angebot auch. Acht von zehn Befragten wünschen sich solch ein Angebot für ihre Region. Wichtig ist für beinahe alle Konsumenten (95 Prozent), Informationen über die Warenverfügbarkeit im Laden zu erhalten. 86 Prozent sagen, sie möchten über den Online-Marktplatz Produkte reservieren und im Store abholen. Lokale Online-Marktplätze gelten generell als sympathischer, umweltfreundlicher und schneller bei der Lieferung als überregionale Marktplätze im Netz.
Kaum verwunderlich also, dass inzwischen auch Kooperationen zwischen Online-Plattformen und Städten entstehen: auf eBay können Händler aus Mönchengladbach ihre Produkte auf einer speziellen Website anbieten. Diese Entwicklung beweist wiederum die künftige Relevanz von lokalen Online-Marktplätzen. „Mönchengladbach bei eBay” ist eine Kooperation von eBay mit der Wirtschaftsförderung Mönchengladbach und der Hochschule Niederrhein im Rahmen des Projekts mg retail 2020.
Die Bequemlichkeit des Online-Einkaufens mit der Nähe des Ladens in der Stadt zu verbinden – darin liegt ein Zukunftsmodell des stationären Einzelhandels nicht nur in Metropolen, sondern vor allem auch in Klein- und Mittelstädten. Konsumenten wünschen sich, bei Menschen, die sie kennen, einzukaufen. Häufig sind nur Öffnungszeiten oder zusätzliche Fahrwege das Hindernis. Lokale Online-Marktplätze sind eine Möglichkeit, Händlern eine digitale Plattform zu bieten, um sich und ihre Produkte zu präsentieren und Konsumenten den lokalen Einkauf zu erleichtern. Kaum verwunderlich also, dass lokale Online-Marktplätze aktuell einen regelrechten Boom erleben – zahlreiche Städte und Gemeinden möchten nun auch die digitale Verlängerung ihres Marktplatzes ins Netz bringen.
Doch was so einfach klingt, kann nur mit Partnerschaften und Kooperationspartnern erreicht werden. Neben den Kommunen müssen weitere Unternehmen wie Technologie- und/oder Logistikanbieter mit ins Boot geholt werden, die für die Infrastruktur sorgen. Dass hier die vielfältigsten Interessen, Kulturen und Wissensstände aufeinandertreffen, sorgt für zusätzliche Brisanz. Vor allem gilt es, die Händler vor Ort zu schulen und ein Bewusstsein dafür zu schaffen, was es bedeutet, Teil des E-Commerce zu sein. Lokale Online-Marktplätze sind Community-Projekte, die eine Region oder Stadt stärken können. Verkaufen am Point of Sale ist und bleibt auch im digitalen Zeitalter eine kommunikative und höchst emotionale Sache – eine Herzensangelegenheit. Wie zu Tante Emmas Zeiten.