In komplexeren Gesellschaften entstehen Kriege meistens dann, wenn eine große innere Verunsicherung herrscht. Wenn eine Gesellschaft sich selbst nicht traut, ihrer eigenen Zukunft misstraut, also eigentlich depressiv ist, neigt sie zu gewalttätiger Regression. Kollektive Gewalt wirkt dann wie ein Rauschzustand, der die inneren Schmerzen betäubt. Aus dieser Perspektive dient Krieg der Sinnstiftung: Er reduziert die Komplexität und ordnet die Welt, erhöht die Lebensenergie und lenkt ab vom Gefühl des Ungenügens, indem er Selbstzweifel „tötet“.
Krieg vom Frieden her denken
Der amerikanisch-kanadische Konfliktforscher Christopher Blattman hat ein dickes Buch über die innere Logik des Krieges geschrieben, in dem er einen interessanten Vorschlag macht: Wir sollten – und können – das Phänomen Krieg nicht von der Seite der Gewalt aus verstehen, sondern nur aus der Perspektive des Friedens. Frieden ist der Normalzustand menschlicher Gesellschaften. Er entsteht, wenn sich Menschen auf dauerhafte Kooperationen und Verhaltensregeln des Ausgleichs von Macht einigen. Frieden erfordert eine ständige Erneuerung sozialer Vereinbarungen. Eine Beziehungsentwicklung durch Regeln, Gesetze, kulturelle Restriktionen, Checks and Balances, die die Gewaltmöglichkeit relativieren.
90 Prozent aller menschlicher Gesellschaften und Gemeinschaften leben in einem selbststabilisierenden Friedenszustand. Sie spielen ein dauerhaftes Integrationsspiel von Konflikten. Die Regeln dieses Friedensspiels lassen sich durch die Spieltheorie bestimmen. Frieden ist dabei Teil einer ständigen Verhandlungsmasse: Weil Krieg immer kostspielig und katastrophal ist, gibt es eine dauerhafte Neigung zur Gewaltvermeidung. Solange der Gewinn durch Kooperation den Preis des Krieges deutlich übertrifft, bleibt der Frieden intakt. Es entsteht ein gemeinsames Nicht-Nullsummenspiel, bei dem die „Friedensdividende“ ständig umverteilt wird.
Blattman verdeutlicht das am Beispiel von Medellín, der zweitgrößten Stadt Kolumbiens, in der seit jeher große kriminelle Banden um die Vorherrschaft kämpfen. Aber seit etwa 20 Jahren sinken die Gewaltexzesse. Blattman schildert, wie diese Banden den Krieg ständig vermeiden, indem sie durch Verhandlungen Konflikte regeln und die „Friedensdividende“ zwischen den Parteien aufteilen. Der „Marktplatz“ dieses Handels ist das Hochsicherheitsgefängnis von Medellín, in dem die meisten Bandenbosse einsitzen.
Solche Friedensdeals funktionieren auch und gerade in diversen, multikulturellen Gesellschaften, in denen es viele unterschiedliche Gruppen und Interessen gibt. Weil dort eine große Friedensdividende umzuverteilen ist, herrscht oft eine hohe ökonomische Vitalität. In Indien, wo es tiefe ethnische und religiöse Spaltungslinien zwischen Hindus und Moslems gibt, kommt es pro Jahr nur zu einem einzigen kollektiven Gewaltausbruch pro 10 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern (ein Hundertstel der Kriminalitätsrate in manchen amerikanischen Großstädten); auch in Afrika gibt es bei rund 2.000 ethnischen Konflikten jährlich nur einen kriegerischen Gewaltausbruch, führt Blattman an. Ein einziger offener Krieg kann allerdings fatale Kaskadeneffekte haben – und viele Jahre andauern. Er zerstört die Verhandlungsgrundlagen, mit denen sich die einzelnen gesellschaftlichen Gruppen auf einen Ausgleich verständigen können.