Wie weit können die Leistungen des eigenen Körpers ausgereizt und digital dargeboten werden werden? Extremsport jenseits der Vereinswelt wird zur modernen Bühne des Ego.
Sport-Performancer: Wettkampf 2.0
The Nose ist eine 1000 Meter hohe Big-Wall-Kletterroute im Yosemite-Tal. Die Erstbegehung im Jahr 1958 dauerte 47 Tage mit mehreren Anläufen. Zwei Jahre später nur noch sieben Tage. 1994 wurde nur noch ein Tag für die Route gebraucht, 2012 gelang es den Extremkletterern Alex Honnold und Hans Florine, die Strecke in weniger als zweieinhalb Stunden zu klettern. Ausschnitte der in 2 Stunden, 23 Minuten, 46 Sekunden bewältigten Strecke sind natürlich als Dokumentation auf den üblichen Video-Clip-Kanälen anzusehen.
Was gestern noch als „Extremsport“ galt und vielleicht als „verrückt“ deklariert wurde, ist heute bereits Mittelklasse. „Extrem-Workouts sind derzeit eindeutig der heißeste Trend im Bereich Fitness“, registriert auch NBC News in einem Artikel über Extremsportler jenseits der Vierzig. Die Sport-Performancer überbieten Die Einfälle der Sport-Performancer lassen den Freizeitsportler mit den Ohren schlackern und Spiderman alt aussehen sich gegenseitig in ihren Darbietungen. Denn Darbietungen sind es, wenn sie ihre Adrenalin-geschwängerten Stunts live der Netzwelt präsentieren. Der nächste Sport-Performancer nimmt den Faden auf und spinnt ihn ein Stück weiter. Es ist ein Wettkampf, der nicht nach dem klassischen olympischen Regelwerk funktioniert, sondern sich darum dreht, wie weit die Leistungen des eigenen Körpers samt der Technik ausgereizt werden können. Es ist somit nicht primär ein körperliches Kräftemessen, sondern auch eines der Technik, des Muts und der Kreativität, das diesem Nischenstil zugrunde liegt.
Wohlfühlen am Rande des Machbaren
Das „Red Bulletin Magazin“, quasi die „Gala“ dieses Nischenstils, präsentiert regelmäßig Stars und Starlets der Sport-Performancer-Szene. Und mit Selbstverständlichkeit und Stolz werden Nebeneffekte präsentiert, die jeden Fitnessstudio-Normalo den Kopf schütteln lassen: „Trainieren, bis die Oberschenkel blau werden – für Viktoria Rebensburg Trainingsalltag“ oder über Freediver Herbert Nitsch, der beim Versuch, seinen eigenen Apnoe-Weltrekord im Freitauchen zu brechen, fast ums Leben kam, als medizinisches Wunder gilt und trotz noch bestehender körperlicher Ausfälle nach einigen Monaten bereits wieder tauchen war. Altersmäßig gibt es sowieso schon längst keine Grenze mehr: „Robby Naish über die Liebe zum Wasser, die Sucht nach dem Wettkampf und die Freuden und Mühen eines Lebens voll Leidenschaft: Die Zwischenbilanz eines windfrischen Fünfzigjährigen.“
Am Rande des körperlich Machbaren scheinen sich die Sport-Performancer erst wohlzufühlen. Dabei überraschen sie sich und Mediziner immer wieder aufs Neue. Freestyle ist ihr oberstes Prinzip in jeder Hinsicht. Untereinander gibt es weniger Neid, Eigenbrötlertum und Heimlichtuerei, sondern ein gegenseitiges Pushen, Motivieren und Miteinander. Ganz vorne mit dabei ist auch Marco Schwab. Oder, wie das Red Bulletin Magazin ihn beschreibt: „Man nehme ,Jackass‘, menge den jungen Stefan Raab bei und schmecke mit einer Prise Letterman oder Leno ab.“ Der Moderator der deutschschweizerischen Sendung „Freestyle“ zeigt auf StarTV jede Woche, was es im Bereich Extrem-Freestyle-Sports Neues gibt.
Adrenalin-Action-Junkies
Joseph Tame hat sicherlich den Nischenstil der Sport-Performances maßgeblich mitgeprägt. Der seit 2007 regelmäßig am Tokyo Marathon teilnehmende Läufer überträgt, schwer mit Technik verdrahtet, live seine Läufe ins Netz, etwa über Skype, FaceTime, Twitter etc. 2012 folgten 42.000 Live-Zuschauer seinen Übertragungen während der 42,195 Kilometer. Während er sich in den Vorjahren jedes Mal selbst übertrumpfte, was den Einsatz an aktuellster Hightech betraf, gönnte er sich 2013 eine kleine Pause und war in diesem Jahr unter anderem „nur“ mit drei iPhones, einem iPad Mini, einer GoPro-Hero-Helmkamera, einer Sony Action Cam und diversen Wifi-Geräten samt Upload-Geräten unterwegs. Interessant ist Joseph Tame nicht nur für die Sport-Performancer-Szene, da er maßgeblich die Dokumentationstechniken und -tools massentauglich werden ließ, sondern auch für Entwickler, Marketeers und Marken, wenn sie ihn Dinge testen und weiterentwickeln lassen.
Inzwischen führen alle renommierten Hersteller Kameras im Sortiment, die nicht nur Stürze, Minusgrade, Wasser aushalten – sondern sich eben auch an den Körper anschnallen lassen und Bilder nicht verwackeln. Sony hat die HRAS15, die bis 60 Meter wasserdicht ist, ebenso die GoPro Hero 3. Die JVS GC-CA1 Adixxion darf zwei Meter runterfallen, und Contour +2 lässt sich um 270 Grad drehen. Und das Netz quillt längst über von Videoplattformen wie hooktit.com und Apps, auf denen Sport-Performancer sich vernetzen und gegenseitig ihre Stunts, ihr Können, ihre Leistungen präsentieren können.
Neben einer Portion Mut und Ideenreichtum ist die Dokumentation per Helm- oder Handkamera Pflicht. Und die Einfälle der Sport-Performancer lassen den Freizeitsportler mit den Ohren schlackern und Spiderman alt aussehen: Slacklinen zwischen Schluchten und Hochhäusern, Speed-Fassadenklettern (wie Alain Roberts) oder Freerunning, sprich das sportlich-dynamische „überrennen“ jedweder Hindernisse wie Mauern, Treppen, Abgründe, wie es etwa der professionelle World Freerun Champion Jason Paul aus Frankfurt perfektioniert hat. Oder auch die Idee der drei Freunde Guy Hacking, Tom Stancliffe und Rob Martineau, 39 Marathons in 30 Tagen durch Osteuropa ohne Begleitwagen, Essen, medizinische Versorgung oder anderen Komfort zu realisieren. Letztere Herausforderung war nicht nur sportlicher Natur, sondern ein mediales Event mit zigtausend Pfund Spendengeldern, die Opfern von Menschenhandel zugutekamen.
Das Netz der Körperspürer
Einsteiger und Amateur-Sport-Performancer erschließen sich diese Nervenkitzel zunächst meist in Hallenkomplexen. Boulderwelten sprießen aus dem Boden, kaum ein Jugendhaus, das nicht Parcouring im Freizeitangebot hat, von innerstädtischen Surfwellen oder Downhill-Strecken ganz zu schweigen. Die Unternehmen haben die Sport-Performancer mit ihren Selbstdarstellungswerkzeugen längst auf dem Schirm. Die großen Ausrüster wie Specialized oder auch GoPro sammeln die Sport-Performancer um sich, indem sie ihnen die Selbstdarstellungsbühne des Netzes eröffnen. Das Netz ist Basis für den Erfolg und die Popularität des Nischenstils. Denn nur hier gibt es Inspiration wie Information – über Möglichkeiten, Techniken und noch offene Projekte. Der Zugang zu entsprechendem technischen Equipment ist weitere Voraussetzung, um sich als Sport-Performancer positionieren zu können
Der wichtigste Baustein zum Erfolg ist aber der eigene Körper und seine Grenzen. Sport-Performancer sind Avantgardisten, was die Wiederentdeckung körperlicher Leistungen anbetrifft. Speziell durch die Urbanisierung und die digitale Arbeit hat sich das Verhältnis zum eigenen Körper entfremdet. Hinzu kommen Warnungen und Regeln von Gesundheitsexperten, die heute aktuell, morgen aber wieder passé sind. Sport-Performancer probieren aus, was sie mit ihrem Körper machen können – und verändern damit das Grundverständnis von Belastbarkeit, was sich auf den Mainstream der sportlich Aktiven auswirkt.
Prinzipiell gibt es für alles mittlerweile eine Veranstaltung, bei der sich die Sport-Performancer in ihrem Extremismus messen können. Wettkämpfe wie der Red Bull Dolomitenmann (Berglauf, Paragleiten, Wildwasser-Kajak und Mountainbike), der Jennerstier (Wettkampf-Skibergsteigen), der Ötztaler Radmarathon mit vier Pässen und 5.500 Höhenmetern oder die vielen Veranstalter, die jeden einen Achttausender hochjagen oder dem Freizeitradler anbieten, die Tour de France nachzufahren, zeigen, wie etabliert die Sport-Performance geworden ist.
Der internationale Erfolg der Hardcore-Events „Tough Mudder“ kann ebenfalls für die Konjunktur des Sport-Performancing als Lebensstil herangezogen werden: Der von zwei Briten gegründete Hindernislauf lässt sich mit keinem anderen „Schlammrennen“ vergleichen. Inspiriert von 6 bis 18 Kilometer langen Parcours, die von den British Special Forces entworfen wurden, geraten Teilnehmer in dieser Mischung aus „Ironman meets Burning Man“ an mentale wie körperliche Grenzen. Und dennoch: 2012 nahmen rund eine halbe Million Menschen an den Läufen teil. Für 2013 sind 53 Events geplant.
Ausweitung der Adrenalinzone
Sport-Performance ist medial ein Fest. Das Immer-schneller, Immer-ausgefallener und Immer-extremer bleibt jedoch in der Nische. Nicht jeder ist ein solcher Adrenalinseeker, dass er Krankenhausaufenthalte Sport-Performancer sind Avantgardisten, was die Wiederentdeckung körperlicher Leistungen anbetrifft gern in Kauf nimmt. Doch was am Ende herauskommt, ist massentauglich: Boulderhallen, Parcouring-Gelände, Hardcore-Caching. Die Nische der Sport-Performancer nimmt solche Anlagen nicht ganz ernst, vergleichbar mit einer 800-Euro-Hightech-Regenjacke, die durch den Regen zur U-Bahn angezogen wird. Sport-Performancer brauchen Herausforderungen, die sie selbst entwickeln. Und sie brauchen vor allem Geräte zur Dokumentation.
Der stark männlich dominierte Nischen-Lebensstil wird analog zu den Plattformen im Internet an Popularität zunehmen. Der Wunsch, sich körperlichen Herausforderungen und einem Wettbewerb zu stellen, wächst zusätzlich durch Megatrends wie Urbanisierung und New Work. Auch der demographische Wandel mit dem Faktor Downaging lässt die Menschen in jedem Alter auf adrenalin- und testosterongeschwängerte Ideen kommen.