„Startups kämpfen gegen das Scheitern“

Was kennzeichnet die Startup-Kultur, warum sind soziokulturelle Aspekte so wichtig, und wie gestaltet sich das Miteinander von Startups und Konzernen? Ein Gespräch mit Dr. Yossi Maaravi, der seit mehr als 20 Jahren die Prinzipien des Unternehmertums lehrt.

Interview mit Dr. Yossi Maaravi (01/2017)

Trend Update: Junge Unternehmungswillige mit einer zündenden Idee bezeichnen sich gern als „Startup“ – welche Kriterien rechtfertigen diese Bezeichnung wirklich?
Dr. Yossi Maaravi: Es gibt viele verschiedene Definitionen von Startups. Ich finde die Definition von Steve Blank, dem Vater der Lean-Startup-Methodology, sehr geeignet. Er sagt, dass ein Startup eine temporäre Organisation ist, deren Businessmodell auf Wiederholbarkeit und Skalierbarkeit ausgelegt ist. Problem ist hier nur: Zwei Leute, die lediglich eine Idee, aber im Prinzip noch nichts kreiert haben, könnten sich bereits als Startup bezeichnen, genauso wie eine 50-Personen-Organisation mit Multimillioneninvestitionen durch Venture Capitals. Daher denke ich persönlich: Sobald du ein Team hast, das eine gemeinsame Vision verfolgt und bereit ist, all-in zu gehen, und sobald das ganze Vorhaben durch ein Businessmodell eingerahmt ist, hat man die Berechtigung erlangt, sich nach außen hin als Startup zu bezeichnen.

Also braucht die Bezeichnung „Startup“ gar keine formellen Voraussetzungen, sondern ist eher emotional und inhaltlich angelegt?
Ja, es geht nicht um die offizielle Gründung. Es sind in meinen Augen eher informelle Voraussetzungen, die erfüllt sein sollten: Es braucht ein Team, eine Idee, Leidenschaft und Commitment sowie zumindest die Grundzüge eines Businessmodells. In Israel wird zum Beispiel gern sehr schnell und auch naiv behauptet, man habe ein „Startup“, obwohl lediglich eine Idee existiert und die eigentliche Arbeit, die mit dem Businessmodell entsteht, noch gar nicht geleistet wurde.

„Lean Startup“ und „Design Thinking Approach“ sind mittlerweile geläufige Begriffe in der Gründerszene: Was genau steckt dahinter, und wie erklärt sich die Popularität dieser Begriffe im Startup-Milieu?
Bei der Lean-Startup-Methode verhält es sich ähnlich wie mit der Geschichte des iPhones: Viele der Bestandteile und Kernmerkmale des iPhones hatte es zuvor schon gegeben, Apples Innovation bestand in der einzigartigen Zusammensetzung dieser Teile. Auch bei der Lean-Methode wurden bestehende Konzepte und Verfahren wurden vereinheitlicht, verschlankt und übersichtlich dargestellt. Die drei Hauptmerkmale sind:

  1. Business Model Canvas statt herkömmlichem Businessplan: Die Canvas liefert alle relevanten Informationen und Thesen eines Businessplans auf einer einzigen Seite. Diese Seite dient den Gründern vor allem dazu, die jeweils aufgestellten Thesen der Reihenfolge nach zu untersuchen.
  2. „Get out of the Building!“: Kreativprozesse und Geschäftlichkeit dürfen nicht nur im Büro stattfinden, man muss rausgehen, mit den Menschen und der Umwelt kommunizieren. Kunden, Wettbewerber, Investoren, alle Marktteilnehmer bieten das Potenzial, Informationen zu generieren, die für die Reifung der Geschäftsidee von großer Bedeutung sind.
  3. Build-Test-Learn-Loop: Verschwende keine Zeit mit dem Versuch, das perfekte Produkt zu erstellen! Man gelangt schneller an das Ziel, wenn man die Lernzyklen verkleinert. Ein iterativer Lernprozess ist wesentlich effektiver als das ewige Tüfteln an der einen perfekten Lösung.

Damit beinhaltet die Lean-Methode wesentliche Merkmale des Design-Thinking-Ansatzes. Worin unterscheiden sich diese dann noch?
Es sind beides kundenorientierte Ansätze. Man spricht beim Design Thinking oft von der Customer Discovery. Der Fokus liegt hier darauf, in einem kontinuierlichen Prozess bei der Produktentwicklung mit dem Kunden gemeinsam dessen Psychologie zu verstehen, um Kundenbedürfnisse besser bedienen zu können. Im Design Thinking gibt es diesen Loop ebenfalls – hier spielt er allerdings eine zentralere Rolle und hat mehrere Bestandteile: Verstehen – Beobachten – Perspektive definieren – Ideen entwickeln – Prototyp entwickeln – Testen.

Die Psychologie des Kunden wird immer mehr verwissenschaftlicht, und Unternehmer versuchen von Beginn an, sich derartiger Ansätze zu bedienen. Sie selbst sprechen oft von „soziokulturellen Ansätzen“. Worin unterscheiden sich diese wiederum von den besagten psychologischen Ansätzen?
Kreativität und Innovation entstehen aus der Umwelt und aus dem Kontext, weniger durch das Individuum. Viele denken, Kreativität sei angeboren, doch die Forschung zeigt, dass die Umwelt einen entscheidenden Einfluss auf das Kreativitätsvermögen hat. Israel beispielsweise ist in den vergangenen Jahrzehnten sehr innovativ geworden. Die Entwicklung dort kann mit dem Schneeballeffekt beschrieben werden: Eine gewisse Basis hat eine kreative Eigendynamik entstehen lassen, die in kurzer Zeit ein Ökosystem schuf, das Angebot und Nachfrage beeinflusste. Dieses Ökosystem beeinflusst die Einstellung der Gesellschaft – und umgekehrt. Wenn sich Jungunternehmer aus einem deutschen Vorort mit einer guten Idee, einem guten Businessmodell und der besagten Leidenschaft in Tel Aviv oder San Fransisco niederlassen, haben sie höhere Erfolgsaussichten, weil das Umfeld einen signifikanten positiven Einfluss auf ihre Unternehmung hat. Daher sollte man in bestimmten Stadien der Unternehmung die soziokulturellen Einflüsse bewusst einkalkulieren.

Apropos Silicon Valley und Silicon Wadi: 2015 wurden alleine in Berlin 2,15 Milliarden Euro an Risikokapitalinvestitionen getätigt. Wird Berlin damit zur nächsten Silicon-Metropole?
Das Global Startup Ecosystem Ranking 2015 zeigt die aufkommende Bedeutung von Berlin. Natürlich sind die USA in dieser Hinsicht weiter führend, so haben auch New York und Los Angeles enorme Sprünge im Ranking gemacht. Das Silicon Wadi hat dabei sogar Ränge verloren, aber nicht, weil dort ein Rückwärtstrend zu verzeichnen ist, sondern weil sich unglaublich viel in anderen Metropolen tut. In Europa sind auch Städte wie London von großer Bedeutung. Aber die Entwicklung von Berlin ist in der Tat besonders bemerkenswert. Berlin ist das am schnellsten wachsende Startup-Ecosystem auf der Welt. Ich bin mir sicher, dass Berlin in den nächsten Jahren in diesem Ranking ganz vorne mit dabei sein wird.

Ist die Erfolgswahrscheinlichkeit für Startups in diesen Silicons oder Mini-Silicons deutlich höher?
Die zur Bewertung herangezogenen Kriterien richten sich nach Reichweite des Marktes, dem Investorenaufkommen, Anzahl potenzieller Mentoren, Möglichkeiten zur Talentakquise, Infrastruktur und Austauschmöglichkeit mit Mitstreitern. Es geht also um die besagte soziokulturelle Umwelt, die in diesen Silicons so fruchtbar ist, dass dort auch die Erfolgsbedingungen für Startups steigen. Ich würde allerdings nicht empfehlen, schon in frühen Stadien den Standort dorthin zu verlagern. Das alte Kinderzimmer oder die Garage reichen für den Beginn aus, das spart Ressourcen. In frühen Stadien sind Unterstützung und Meinungen der Menschen aus der Nähe emotional sowie psychologisch sehr wichtig. Auch das erste Geld bekommt man in der Regel aus der unmittelbaren Umgebung. Nach einem Jahr etwa, wenn man ein solides Konzept oder vielleicht sogar einen Produktentwurf hat, kann man in Erwägung ziehen, die beste Lage innerhalb des Landes auszusuchen – auch da muss es noch nicht ein neues Land sein.

Solche und andere Tipps werden den Unternehmern immer wieder mit auf den Weg gegeben. Gibt es so etwas wie „Gründen nach Lehrplan“? Was sind die wichtigsten Erfolgsfaktoren für Startups – und warum ist die Scheiterquote nach wie vor so hoch?
Es gibt sicherlich kein Rezept für das richtige Gründen. Glück und Chance spielen eine große Rolle. Selbst wenn alles richtig gemacht wird, kann sich der Markt oder die Konkurrenz verändern, und damit ändert sich alles. Zu Beginn der Unternehmung ist man zu 99 Prozent mit dem Scheitern konfrontiert. Diese Scheiterquote sinkt, je weiter man voran schreitet, aber selbst wenn man Gelder von VCs bekommt – was schwer genug ist –, liegt sie immer noch bei 75 Prozent. Es ist also kein Kampf um Erfolg, sondern vielmehr ein Kampf gegen das Scheitern. Aus fast allen Ratgebern, die To-dos und Regeln für das richtige Gründen aufstellen, geht die gleiche Essenz hervor:

  1. Beginne mit einem Team! Du hast am Anfang keine Ressourcen, aber vieles muss erledigt werden. Wenn du Investoren angehst, musst du sie überzeugen, dass du eine Truppe hast und ein Leader bist, eine Gruppe lenken kannst und sie mit deiner Vision infiziert hast.
  2. Du brauchst Leidenschaft und Commitment! Es kann die Leidenschaft für den Mehrwert deiner Lösung sein oder auch eine generelle Leidenschaft für das Unternehmertum. Wichtig ist der Enthusiasmus, etwas eigenes zu kreieren und auf die Beine zu stellen. Es ist ähnlich wie bei einem Künstler. Ein Musiker zum Beispiel kann sich nichts anderes vorstellen als auf der Bühne zu stehen. Mit der entsprechenden Hingabe praktiziert er dann auch seine Musik. Bei echten Entrepreneuren verhält es sich mit der Leidenschaft und Hingabe genauso. Ist diese Leidenschaft nicht vorhanden, wird es bei der Menge an kommenden Hürden schnell zum Punkt des Aufgebens kommen.
  3. Such dir einen Mentor! Es gibt heutzutage eine Menge freiwilliger Mentoren, die ihre Hilfe sogar gratis anbieten. Manche wiederum nehmen Unternehmensanteile als Gegenleistung. Ich rate aber zunächst, mit Mentoren zu arbeiten, die ihre Hilfe kostenlos anbieten, denn diese haben eine intrinsische Motivation zu helfen. Wenn man regelmäßig einen Mentor konsultieren kann, hilft das enorm viel Zeit und Ressourcen einzusparen.
  4. Erstelle ein vernünftiges Businessmodell! Die Lean-Startup-Methode und der Design-Thinking-Approach sind hier gute Stichpunkte – man muss sich bewusst sein, dass man mit einer Idee noch lange kein Startup besitzt. Bei der Erstellung eines Businessmodells ist die Nähe zum potenziellen Kunden unabdingbar. Man sollte sich stetig fragen, welchen Beitrag die Auseinandersetzung mit potenziellen Kunden leisten kann, um eine aussagekräftige Canvas zu kreieren.

Immer mehr Startups scheinen diese Empfehlungen erfolgreich umzusetzen, denn etablierte Unternehmen und Konzerne kaufen zunehmend Startups auf, um sie als eigenständige Geschäftseinheiten agieren zu lassen. Wer profitiert am meisten von dieser Konstellation? Werden hier Kompetenzen aufgekauft oder Konkurrenten beseitigt?
Konzerne hätten einen unglaublichen Ressourcenaufwand, um mit der Innovationskraft von Startups mitzuhalten. Die Prozesse in Konzernen sind derart komplex, dass eine Kommunikation zwischen verschiedenen Instanzen nicht so dynamisch wie in Startups verläuft. Eine Analogie aus der Tierwelt verbildlicht das: Große Tiere sind anmutig und erfolgreich und haben sich bestens an ihre Umwelt angepasst. Aber ihrer morphologischen Überlegenheit stehen auch Nachteile gegenüber. Sie sind träge, es fehlt ihnen an Agilität und Dynamik. So ergeht es auch Konzernen: Hierarchien verhindern kurze Kommunikationswege und agile Entscheidungsfindungen. Anpassungen können nicht schnell vorgenommen werden. Die logische Konsequenz ist, dass man Abläufe beziehungsweise Arbeit, die man zeitlich nicht bewerkstelligen kann, dann einfach einkauft.

Der Fokus der Konzerne liegt allerdings nicht ausschließlich auf den innovativen Produkten und Services der Startups. Interessant sind vielmehr die Talente, die diese Unternehmungen erfolgreich gestartet haben: die geballte Ladung enthusiastischer Mitarbeiter aus den verschiedenen innerbetrieblichen Bereichen. Diese Menge und Qualität an Personal zu akquirieren, würde etablierte Unternehmen Monate bis Jahre sowie Millionen von Euro kosten. Sicher denken Konzerne dabei auch an die Gefahr aufkommender Konkurrenz – aber nicht im herkömmlichen Sinne: Es geht nicht um die Sorge, eines Tages von einem Startup verdrängt zu werden. Vielmehr geht die Gefahr von den bestehenden großen Konkurrenten auf dem Markt aus. Da geht es darum, welchem Konzern als erstes das Potenzial des nächsten Sternchens am Startup-Himmel auffällt. Als Facebook zum Beispiel Whatsapp aufkaufte, spielt es sicher eine Rolle, dass auch Google ein Auge auf Whatsapp geworfen hatte.

Sind dies nicht die Kernmerkmale der Open Innovation?
Richtig. Aus diesem Antrieb ist das Konzept der Open Innovation entstanden: Man holt sich bewusst die Innovationskraft von extern ins Haus. Konzerne mit diesem Innovationsverständnis haben realisiert, dass man sich externer Ressourcen bedienen muss, um langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben. Hier wird der Marktwettbewerb anders betrachtet: Startups, die auf dem gleichen Markt agieren, werden mit behutsamen Augen beobachtet. Man versucht, mit der potenziellen Gefahr in einem offenen Ansatz konstruktiv umzugehen. Verläuft die Entwicklung eines Startups bedrohlich oder aber auch lukrativ, kann man immer noch entscheiden: investieren oder kaufen. Dabei werden Ausgaben für die eigene R&D eingespart. Es kann also sogar ausreichen, den Markt stetig und eingehend zu analysieren und nach geeigneten Gelegenheiten Ausschau zu halten.

Das Interview führte Kamran Zerafat.

Dr. Yossi Maaravi ist am Interdisciplinary Center Herzliya (IDC) hauptverantwortlich für das Entrepreneurial Management. Er ist akademischer Direktor des CO-OP Startup Experience Kurses sowie Leiter des LEUMI Center for Innovation, des IDC IMPACT und des B.A.-Programms in Entrepreneurship. Maaravi verfügt über umfangreiche Erfahrungen als Unternehmer und Unternehmensberater.

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