Unsere Gesellschaft scheint zu zerfallen: Die breite Mitte, deren Wertvorstellungen lange Zeit große nationale Institutionen trugen und nährten, erodiert. Was ist passiert – und was ist zu tun? Ein gekürzter und bearbeiteter Auszug aus der Studie „Next Germany“
Warum wir eine neue Wertelandkarte brauchen
Der große Werte-Split
Trotz aller anfänglichen Impulse in Richtung Solidarität und Zusammenhalt hat die Corona-Krise auch eine gegensätzliche Empfindung verstärkt, die schon lange vor der Pandemie wirkte: die Wahrnehmung, dass die Gesellschaft zu zersplittern scheint in relativ autonome, voneinander abgekoppelte Subwelten, die sehr unterschiedliche Werte vertreten und nur noch wenig Überschneidungsmengen aufweisen in Bezug auf das, was sie wollen und für wichtig halten. Digitale Medien ermöglichen dabei eine zuvor unbekannte Meinungsvielfalt – aber sie machen es auch einfacher denn je, paranoide Parallelwelten wasserdicht zu verschließen und sich abzuschotten von all dem, was nicht in das eigene Weltbild passt. Meinungsvielfalt zu ertragen, die eigene Identität durch Auseinandersetzungen mit anderen Wertewelten infrage zu stellen, das individuelle Mindset weiterzuentwickeln: All das hat darin wenig Platz. Und zwar umso weniger, je stärker die kollektiven Denkwelten auseinanderdriften.
Der Wandel des Mediensystems steht dabei stellvertretend für den Wandel der gesamten Gesellschaft. Seit der Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit bestimmten die Massenmedien, was als „wahr und wirklich“ galt und sicherten so die Herstellung verbindlicher kultureller Sinnhorizonte ab. Die Medien hatten Deutungshoheit über den „geltenden“ gesellschaftlichen Konsens, der den Menschen als Orientierung diente. „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“, beschrieb es Niklas Luhmann 1995 in seinem Buch „Die Realität der Massenmedien“. Heute, mehr als ein Vierteljahrhundert später, hat sich eine neue mediale Realität formiert. Die Netzwerkmedien des 21. Jahrhunderts verbreiten Wissen auf eine Weise, die nicht mehr von Journalisten kontrolliert werden kann, traditionelle Leitmedien sind nicht mehr die unangefochtenen Konstrukteure von Wirklichkeit.
Wie in der Studie „Next Germany“ ausführlich auf Basis fundierter Datenerhebungen dargelegt wird, stehen sich momentan im Kern zwei kulturelle Wertewelten gegenüber, zwei Perspektiven im Hinblick auf Veränderung und Zukunft. Sie unterscheiden sich vor allem in ihrem Umgang mit Komplexität:
- Die Gruppe der „starken Gemeinschaft“: Sie setzt auf Kooperation und kollektiven Zusammenhalt und ist geprägt vom Mindset eines „konservativen oder bewahrenden Wir“. Vertreter dieser Gruppe haben mittlerweile nur noch wenig Zukunftshoffnungen. Sie setzen auf Strukturen und Institutionen, die in der Vergangenheit gute Dienste geleistet hatten. Menschen mit geringerer Bildung (die vermutlich nicht auf eine komplexe Umgebung zugeschnitten war) sind in dieser Gruppe leicht überrepräsentiert.
- Die Gruppe der „starken Individuen“: Sie setzt auf individuelle Leistung und Wettbewerb und ist geprägt von einem Mindset eines „progressiven Individualismus“. Vertreter dieser Gruppe sehen viele Zukunftsperspektiven, denken aber vor allem in individuellen Kategorien und sind frustriert, dass die Gesellschaft als Ganzes ihr Ideal nicht teilt. Menschen mit höherem Einkommen (und damit meist besserer Bildung und robusteren Verdienstmöglichkeiten) sind in dieser Gruppe leicht überrepräsentiert.
Mit einem Selbsttest können Sie herausfinden, wo Sie mit Ihren Zukunftswerten im Vergleich zur gesamten deutschen Bevölkerung stehen. Alle Infos gibt’s unter www.next-germany.de.
Zwischen beiden Einstellungen ist kein gemeinsamer Wertenenner mehr vorhanden – außer vielleicht dem Gefühl, dass die Welt aus den Fugen geraten ist und sich keine für alle attraktive Lösung abzeichnet.
Tatsächlich kann eine Lösung nur auf einer anderen, höheren Ebene entstehen: durch ein wertfreies Begreifen der bisherigen Positionen und das Verstehen der Dynamik, die zwischen ihnen herrscht. Entscheidend ist eine neue Betrachtung der bislang kultivierten Haltungen aus einer „dritten Position“ heraus: Auf Grundlage der von in der Studie ausgewerteten Daten kristallisiert sich die Position eines „progressiven Wir“ heraus, das Gemeinschaft will, dafür aber auch die Stärke des Einzelnen nutzt. Dafür jedoch gilt es ein neues Mindset zu entwickeln.
Ein solches Mindset zeichnet sich bereits in vielen theoretischen Diskursen ab, ist aber in der Gesellschaft erst in Teilen angekommen. Denn tatsächlich befindet sich die Gesellschaft am Anfang des 21. Jahrhunderts inmitten eines großen Paradigmenwechsels. Die Revolution der Digitalisierung und der damit verbundenen neuen Netzwerklogik des Internets markiert einen fundamentalen Umbruch im Prozess der gesellschaftlichen Evolution. Die Gesellschaft verändert sich in ihrer Grundstruktur, es entsteht eine neue Gesellschaftsform: eine stark vernetzte Gesellschaft, die daher auch mehr Auseinandersetzung und mehr Konfrontation mit anderen Haltungen mit sich bringt. Dieser Umbruch schlägt sich in allen Bereichen nieder und stimuliert damit auch eine Krise des politischen Systems.
Vor diesem Hintergrund gehen wir in der Studie „Next Germany“ folgenden Leitfragen nach:
- Wo stehen wir heute – wie ist die Wertelandschaft in Deutschland strukturiert?
- Wohin bewegt sich unsere Gesellschaft – welche Dynamik zeigt die Datenanalyse?
- Welche Veränderungskräfte wirken – was sagt die Theorie, und wie sieht die Langfristperspektive aus?
- Wie wollen wir zusammenleben – und wie können wir eine neue Gemeinsamkeit finden?
- Was können wir tun – wie viel Handeln ist nötig für die Entfaltung eines neuen Mindsets?
Um sich diesen Fragen zu nähern, braucht es Mut und die Bereitschaft, einen bewussten und ehrlichen Blick zu werfen auf die momentane Unvereinbarkeit der Wertewelten und auf die Intensität der gesellschaftlichen Spaltung – ohne voreilig Partei zu ergreifen. Es braucht Akzeptanz, um den Subwelten und ihren Logiken Verständnis entgegenzubringen, sie zu respektieren und anzuerkennen, ohne einzugreifen und steuern zu wollen. Und es braucht Vertrauen darauf, dass die momentane Desorientierung in unserer Gesellschaft nur eine vorübergehende Phase der Instabilität markiert, dass sie ein Atemholen ist für eine neue Entwicklungsstufe. Die Basis für diesen Entwicklungssprung sind Überschneidungen im Denken, Fühlen und Handeln: eine gemeinsame Landkarte der neuen Welt, in der sich das „progressive Wir“ manifestiert.
Dieser Text ist ein gekürzter und bearbeiteter Auszug aus der Studie „Next Germany“.