Ausschwärmen nach Afrika statt Marshallplan mit einseitigen Hilfszahlungen: Beim G20-Treffen machte Deutschland „Afrika“ zum Thema. Afrika-Experte Hans Stoisser über die Aussicht auf eine neue multilaterale Initiative.
Wird unsere Afrikapolitik endlich komplexer?
„Nicht die Idee zählt, es geht um das zu lösende Problem“, sagt Timbo Drayson. Der in Kenia tätige US-Amerikaner hat OkHi gegründet, ein Unternehmen, das vier Milliarden Menschen auf der Welt eine physische Adresse verschaffen will. Dazu zählt auch die Mehrzahl der Afrikaner, die keine Pakete empfangen und ihren Arbeitgebern, Banken oder Behörden keine Adresse vorweisen können – ein entscheidendes Entwicklungshemmnis.
So wie das Team von OkHi arbeitet auch das Startup Uko-Wapi in Nairobi an Anwendungen mit digitalen Plattformen und GPS-Ortung. Und wahrscheinlich gibt es noch einige Dutzend andere Unternehmen in weiteren afrikanischen Hotspots wie Lagos, Johannesburg, Kigali oder Accra, die programmieren, testen, verwerfen und sich schrittweise Lösungen nähern.
Afrika als Chef(innen)sache
Seitdem Migration zu einem brennenden innenpolitischen Thema geworden ist, ist Afrika Chef(innen)sache geworden. Die deutsche Bundesregierung hat die multilaterale Initiative “Compact with Africa” gestartet, die beim G20-Gipfel in Hamburg am 6. und 7. Juli auf Ebene der 20 weltweit wichtigsten Länder diskutiert wurde. Neu und im letzten Moment mit eingearbeitet: Private Unternehmen sollen in afrikanische Länder strömen, investieren und zusammen mit lokalen Partnern Kundenutzen schaffen.
Zunächst hatte noch das Entwicklungsministerium mit seinem „Marshallplan für (mit) Afrika“ und der Idee dominiert, durch möglichst viele staatliche Hilfsleistungen afrikanische Länder “zu entwickeln”, Arbeitsplätze zu schaffen und damit die Afrikaner davon abzuhalten, nach Europa zu kommen. Doch abgesehen von den vielen Milliarden Euro an Hilfe, die Afrika längst hätten entwickeln sollen, übersieht dieser Ansatz vor allem zwei Dinge:
1. Es läuft gar nicht so schlecht in „Afrika“.
2. Wenn es noch mehr und schnellere wirtschaftliche Entwicklung gäbe, würden eher mehr als weniger Migranten zu uns kommen.
Und überhaupt, wie würde ein Marshallplan das eingangs geschilderte Problem „physische Adresse für alle“ zu lösen versuchen? Würde man über ein zentrales, planwirtschaftliches Projekt hinauskommen, etwa mit dem Titel „Einführung neuer Straßen- und Plätzebezeichnungen in Afrika und Aufstellen neuer Hinweisschilder“?
„Afrika“ boomt
Laut dem Internationalem Währungsfonds hat sich die Wirtschaftsleistung Sub-Sahara Afrikas zwischen 2000 bis 2015 verdreifacht. Parallel dazu hat sich das Pro-Kopf-Einkommen verdoppelt – im Durchschnitt, inklusive aller “Failed States”. Dahinter stehen unterschiedliche Entwicklungen. Der Boom der Rohstoffpreise hat die rohstoffexportierenden Länder wie Nigeria oder Angola besonders befeuert. In anderen Ländern wie Botswana, Äthiopien, Ghana, Mosambik, Ruanda, Kenia, Tansania, Uganda oder Senegal fußt der Aufschwung dagegen auf einer sich diversifizierenden Wirtschaft.
Allen gemeinsam ist ein dramatischer Umbruch: Die afrikanischen Länder haben angedockt an die Weltwirtschaft, und ihre Mittelschicht hat sich eingeloggt in die globale Wissensgesellschaft.
Die Vertreter der Generation Y, also die zwischen 1980 und 1995 geborenen, rücken viel früher als bei uns in Führungspositionen vor. Sie zeichnen sich durch die gemeinsame Erfahrung aus, erstmals mit dem Weltgeschehen verbunden gewesen zu sein. Genauso wie Jugendliche hierzulande, haben sie zunächst durch Satelliten-TV, dann Mobiltelefonie und Internet den ersten Irak-Krieg oder den deutschen Fußball-WM-Sieg 1990 live miterlebt – im Gegensatz zu ihrer Elterngeneration, die größtenteils noch abgeschieden am Land aufgewachsen war.
Die Folge war ein Schub von Veränderungen, der eine neue urbane Mittelschicht entstehen ließ – laut einer Schätzung der afrikanischen Entwicklungsbank umfasst sie ein Drittel aller Afrikaner und Afrikanerinnen. Doch selbst wenn es nur 150 bis 200 Millionen von insgesamt 1,2 Milliarden Menschen sind: Sie bilden die kritische Masse, die die Zukunft des Kontinents bestimmt. In diesem Zuge erfolgte auch ein Rückgang der “absoluten Armut” (Menschen die weniger als 1,9 US-Dollar pro Tag zur Verfügung haben): Zwar hinkt Afrika dem globalen Trend nach, doch der Anteil sank zwischen 1990 und 2015 von 56 auf 35 Prozent. Und trotz steigender Bevölkerungszahlen sinkt mittlerweile auch die absolute Zahl der Armen: von 393 Millionen Menschen im Jahr 2011 auf 347 Millionen im Jahr 2015.
Während wir also glauben, dass die Armen immer ärmer werden und deswegen immer mehr Afrikaner nach Europa wollen, sind die afrikanischen Länder Teil der vernetzten globalen Gesellschaft geworden. Und durch zunehmende globale Arbeitsteilung und Vernetzung ist die Armut längst zurückgedrängt worden.
Fluchtursachen bekämpfen?
Der zweite in einem Marshallplan übersehene Punkt ist, dass mehr wirtschaftliche Entwicklung und Arbeitsplätze in Afrika nicht automatisch zu weniger Emigration nach Europa führen. Denn die Nigerianer, Ghanaer, Eritreer oder Senegalesen wollen nicht zu uns, weil sie immer ärmer werden. Sondern: weil sie immer weniger arm werden. Menschen, die plötzlich nicht mehr gottgegeben als Selbstversorger ein Leben führen müssen wie es ihre Vorfahren über Jahrhunderte getan haben, sondern die über Fernsehen, Mobiltelefonie und womöglich Internet mit der Welt verbunden sind, wollen und müssen ihr Schicksal in die Hand nehmen – und ihr Glück auch woanders suchen.
Studien zeigen: Wenn Menschen aus der absoluten Armut kommen und das durchschnittliche Einkommen von Gesellschaften steigt – von 500 auf 1000, 2000 oder 8000 Dollar im Jahr –, nimmt die Emigration zu (Clemens 2014). Solange sich in afrikanischen Gesellschaften also eine große Zahl von Menschen aus der absoluten Armut in Richtung untere Mittelschicht bewegt, wird ein Teil dieser Menschen emigrieren wollen. Aus- und Einwanderungen sind ein natürlicher Teil von Gesellschaften, die sich verändern. Der Megatrend Mobilität befeuert diese Entwicklung. Mit Entwicklungshilfe gegen die Fluchtursachen der Wirtschaftsmigration vorzugehen, ist daher ein Kampf gegen Windmühlen.
Digitales Afrika
Traditionelle Entwicklungshilfe – und damit auch ein Marshallplan – sind in der heutigen Welt unterkomplex: Sie versuchen, die Geschehnisse in einfachen Ursache-Wirkung-Zusammenhängen zu erklären. Deswegen sind wir auch in die Falle getappt und haben die Bootsflüchtlinge in Italien als Bestätigung für unser Afrika-Bild der Krisen, Kriege und Katastrophen gesehen. Wir haben übersehen, was sich in afrikanischen Ländern sonst noch getan hat.
Nachdem Anfang der 2000er-Jahre die Mobiltelefonie innerhalb weniger Jahre hunderten Millionen Menschen einen Zugang zu Kommunikation gegeben hat, ist das “mobile money” entstanden. Aus den Telefongesellschaften hervorgegangene “mobile banks” haben – ebenfalls innerhalb weniger Jahre – für diese Menschen einen Zugang zur Geldwirtschaft geschaffen. Beides sind disruptive Veränderungen, die nicht von Entwicklungspolitikern geplant waren und in Afrika entscheidende Grundvoraussetzungen für modernes Wirtschaften gelegt haben. Heute ist “mobile money” eine Basistechnologie im “Silicon Savannah” in Nairobi – oder in Lagos, Accra, Kigali oder Johannesburg.
Und es entstehen viele weitere Innovationen, die die Gesellschaften verändern. Zum Beispiel im Bildungsbereich, wo mittlerweile zwei Millionen Schüler Eneza nutzen, eine Lernhilfe-App für Sprachen und Mathematik. Mit professionellem Call-Center und einer Business-Mission, die auf 50 Millionen Nutzer abzielt. Oder im Gesundheitsbereich, wo moderne Private-Public-Partnerships ganz neue Lösungen erlauben, sowohl zur Ausbildung des Gesundheitspersonals als auch zur Betreuung der Menschen in entlegenen Regionen.
Oder im Energiebereich: Im östlichen Afrika gibt es bereits 600.000 Haushalte mit smarten Off-grid-Solaranlagen. Nicht ans Stromnetz, aber ans Mobiltelefonnetz angeschlossen, ermöglichen sie armen ländlichen Familien einen nachhaltigen Zugang zur Stromversorgung. Hinzu kommen lokale Stromnetze, die mit Solar- oder Wasserkraft gespeist werden, sowie erste Anwendungen der Verschlüsselungstechnologie Blockchain. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass auf dem afrikanischen Kontinent zentrale Stromversorgungsnetze erst gar nicht entstehen, sondern gleich dezentrale „smarte“ Versorgungsnetze aufgebaut werden.
2016 wurde die erste Cargo-Drohnen-Linie in Ruanda eröffnet. Open-Data-Anwendungen haben einen Fahrplan für das chaotische Verkehrssystem von Dar-es-Salaam in Tansania geschaffen. Und erste 3D-Drucker warten darauf, die Ersatzteilversorgung oder das Bauwesen ganz neu zu organisieren. Software kompensiert in afrikanischen Ländern längst einen Teil des Mangels an Lehrern, Ärzten und sonstiger Infrastruktur. Disruptive Innovation gelingen auch deshalb in großer Zahl, weil sie – anders als bei uns – nicht von Besitzständen und alten Technologien verhindert werden.
Während die Migrationskrise hierzulande also das alte Afrikabild verstärkt hat, während wir die hohen Geburtenraten sehen und zu schaffende Arbeitsplätze zählen und meinen, dass Europa all diese Arbeitsplätze schaffen müsse, haben die Megatrends Globalisierung und Konnektivität längst viele grundlegende Voraussetzungen geschaffen, die in Afrika auch zwei oder mehr Milliarden Menschen ein Leben ohne Armut ermöglichen. Heute schon trifft ein riesiger Bedarf von 1,2 Milliarden Menschen auf einen vernetzten Raum neuartiger Fähigkeiten und Technologien. Die vernetzte globale Gesellschaft mit Afrika als wichtigem Teil davon ist das Big Picture, das es zu erkennen gilt.
Mut zur Komplexität
Eine zentrale staatliche Entwicklungszusammenarbeit ist einfach nicht vielfältig genug, um mit diesen Dynamiken und Veränderungen umgehen zu können. Von den Systemwissenschaften wissen wir, dass wir die eigene Komplexität verstärken müssen, um mit komplexer werdenden Umwelten umgehen zu können. Dies könnte eine Politik des “Ausschwärmens” und lokalen Vernetzens europäischer Unternehmen und Organisationen in afrikanischen Ländern leisten: Sie erhöht die eigene Komplexität.
Der deutsche Ansatz “Compact with Africa” setzt auf dezentrale Lösungen und die Kraft und Intelligenz der Vielen. Er löst nicht planbare Dynamiken aus – und erhöht so die Chancen auf nachhaltige Lösungen für Afrikaner und Afrikanerinnen um ein Vielfaches. Nur so kann beispielsweise auch eine Lösung für das eingangs erwähnte Problem der „physischen Adresse für alle“ gefunden werden. Mit einem zukunftsweisenden “Test and learn”-Mindset anstelle des linearen “Plan and implement”-Ansatzes der traditionellen Entwicklungshilfe.
Zugleich bieten die Vernetzungen in den Herkunftsländern einen wesentlichen Baustein zur Lösung des Immigrationsproblems in Europa. Denn wie sollte die zunehmende transkulturelle Vernetzung hier in den Griff bekommen werden, wenn nicht auch durch Vernetzung dort, in den Herkunftsländern?
Quellen:
International Monetary Fund, imf.org
Clemens, Michael: “Does Development Reduce Migration?”. In: cgdev.org, 03/2014
Cruz, Marcio et al.: “Ending Extreme Poverty and Sharing Prosperity: Progress and Policies”. In: pubdocs.worldbank.org, 10/2015
Weiss, Tim: Digital Kenya: An Entrepreneurial Revolution in the Making. Bitange Ndemo 2017
Über den Autor:
Hans Stoisser hat mehr als 30 Jahre lang Infrastruktur in Dritte-Welt-Ländern aufgebaut. Seit 1992 leitet er die Managementberatung ECOTEC, die unter anderem in Bulgarien, Palästina und Brasilien, vor allem aber in vielen afrikanischen Ländern, tätig war. In seinem 2015 erschienen Buch “Der schwarze Tiger – Was wir von Afrika lernen können” erklärt der Ökonom das “andere Afrika”. Stoisser bloggt und ist Mitorganisator einer “Learning Journey ins Silicon Savannah” sowie eines “Global Innovation Expert”-Seminars im Oktober in Nairobi.