Je unkontrollierbarer sich das Leben außerhalb der eigenen vier Wände gestaltet, desto wichtiger wird der persönliche Ort des Rückzugs. Ein Gedankenexperiment zeigt, wie sich unser Wohnverhalten verändern wird – und welche Rolle Heimat dabei spielt.
Post-Corona Hygge

Der neueste Sofastil, die Pantone-Farbe des Jahres oder die trendy Kissenkollektion – es gibt etwas an diesen Wohntrends, das sich plötzlich fast dekadent und unanständig anfühlt. Man könnte meinen, sie seien immer nur „Lösungen der ersten Welt für Probleme der ersten Welt“. Doch die Art und Weise, wie wir unsere Häuser formen, dekorieren und einrichten, ist plötzlich wichtiger denn je. Das Bedürfnis nach einem Zuhause, einem selbst gestalteten Ort des Rückzugs, ist ein fundamentaler humaner Instinkt. Unser Heim erinnert uns daran, wer wir sind und was uns wichtig ist.
Um zu verstehen, wie sich das Wohnen durch die Corona-Krise verändern wird, versetzen wir uns gedanklich in die Zukunft. Doch statt in die Zukunft zu schauen (Prognose), schauen wir von der Zukunft zurück auf heute (Regnose). Wir drehen den Spieß um – stellen uns vor, wir schreiben das Jahr 2021. Die Krise ist überwunden. Nun betrachten wir unsere Wohnungen: Unser Blick gleitet vorbei an den Wänden, Böden und Schränken hin zu den kleinen Details. Das abgenutzte Marie-Kondo-Buch liegt wieder an seinem Platz im Regal. Wir freuen uns, dass unsere Wohnungen aufgeräumter, organisierter und komfortabler, praktischer und funktionaler geworden sind. Wir haben gelernt, Dinge selbst zu reparieren, Regale aufzubauen oder die Wände zu streichen. Und es gibt etliche Dinge, von denen wir uns verabschiedet haben, die wir gespendet oder verkauft haben. Der Küchentisch mit seinen Flecken und Kratzern sieht nicht mehr schmutzig und gebraucht aus, sondern erzählt die Geschichte eines Lebens mit Familie und Freunden. Der Keller wirkt nicht mehr wie die Kulisse einer Krimiserie, und wir haben den Koffer der Großmutter vom Dachboden umfunktioniert.
Ein Gefühl von Kontrolle
Wir können uns immer noch an das warme Gefühl erinnern, als wir anfingen, die Kontrolle über unseren privaten Raum, über unser Leben zurückzuerobern. Wir werden uns fragen, warum wir einmal nach Hause gekommen sind und alles für selbstverständlich gehalten haben, warum wir unser Zuhause vernachlässigt haben, warum wir die subtilen Linien der Tischbeine im Esszimmer oder die weiche Krümmung der Armlehnen des Sofas nie wirklich bemerkt und geschätzt haben.
Bei der Regnose geht es darum, sich ein Ziel in der Zukunft vorzustellen und sich dann gedanklich Schritt für Schritt rückwärts bis zur Gegenwart zu bewegen. Dieses Prinzip hilft dabei herauszufinden, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, um zum „Wir werden uns fragen, warum wir die subtilen Linien der Tischbeine im Esszimmer oder die weiche Krümmung der Armlehnen des Sofas nie wirklich bemerkt und geschätzt haben.“ erwünschten Ziel zu gelangen. Definieren wir also eine wünschenswerte Zukunft: Wir malen uns unser Zuhause aus, wie wir es uns immer vorgestellt haben.
Wenn wir uns in Zukunft in unseren Häusern sehen, erlauben wir uns, unser Hab und Gut kritischer zu betrachten – von wem es gemacht wurde, woher es kam und was es für uns bedeutet. Bringt es uns Freude oder Trost? Spiegeln die rund 10.000 Dinge, die jeder von uns besitzt, unsere Überzeugungen und tatsächlichen Bedürfnisse wider? Legen wir Wert auf nachhaltige Materialien? Achten wir nur auf Aussehen und Design – oder auch auf Langlebigkeit und Funktionalität? Wir sehen, es geht nicht nur darum, was in unseren Häusern passiert, sondern auch darum, wie wir uns in ihnen fühlen.
Eine neue Achtsamkeit
Sätze wie die englische Redewendung „Home is the place where our soul feels that it has found its proper physical container“ werden nicht mehr leichtfertig belächelt, sondern treffen den Kern unserer neuen Realität. Gleiches gilt für den viel diskutierten – und manchmal verspotteten – Achtsamkeitstrend. Achtsamkeit erhält plötzlich eine neue Bedeutung, Wichtigkeit und Dringlichkeit. Solche kulturellen Veränderungen und Konzepte werden nicht mehr nur als kurzfristige Lösungen angesehen und als Spielzeug für die Privilegierten abgetan. Es geht darum, sich einer neuen Realität zu stellen, wo zu Hause ist, wie wir es gestalten und mit wem wir wirklich leben wollen.
Es sind die Menschen ohne Zuhause, die am meisten Heimweh verspüren. Gegenwärtig haben wir eine Welt der Nomaden erschaffen. Wir formen und fördern flexible, mobile Lebensstile. In der Zukunft erfahren wir eine Rückwärtsbewegung. Es geht darum, unser Heimatgefühl zurückzugewinnen. Es geht darum zu verstehen, was Zuhause beschreibt: „das Vertraute, die Schwerkraft, das Zurückfallen in sich selbst nach der Zerstreuung und Überdehnung in der Welt“ (Andrew Bush, Bonnettstown, 1989).
Anders gesagt: Hygge ist tot, lang lebe Hygge.