Zukunftsthemen

Der Megatrend Urbanisierung

Geschrieben von Zukunftsinstitut | Dec 10, 2023 11:48:55 AM

Im urbanen Raum spitzen sich die wichtigsten Fragestellungen der heutigen Zeit zu: Der Kampf gegen den Klimawandel entscheidet sich in den Städten genauso mit wie die Frage nach sozialer Gerechtigkeit oder nach der Zukunft der Arbeit und der Mobilität. In diesen Spannungsfeldern entsteht gleichzeitig enormes Entwicklungspotenzial. Der Blick auf die Wirkung gestalteter Umwelten auf die menschliche Lebensqualität wird dabei nicht nur für die Konzeption zukünftiger städtischer, sondern auch ruraler Lebensräume zentral.

Zu Beginn der Corona-Pandemie prägte eine zentrale Frage den Diskurs der Stadtforschung: Befinden wir uns bereits am Urban Peak? Wird die kollektive Erfahrung der Corona-Krise eine langfristige Stadtflucht auslösen und somit das Ende des Megatrends Urbanisierung markieren? Tatsächlich gewann das Land als Lebensraum in Zeiten der Lockdowns enorm an Attraktivität. Nicht ohne Grund werden Städte häufig als Erstes zu Krisengebieten erklärt: Die hohe physische und soziale Dichte macht Städte vulnerabel und krisenanfällig.

Ihre Strukturen sind einerseits großen Risiken ausgesetzt, ermöglichen andererseits aber auch meisterhafte Krisenbewältigung. Dieselben dichten Metropolen, die so anfällig für Krisen und Katastrophen sind, glänzen auch durch ungeahnte Resilienz, denn negative Folgen können hier strukturell schneller in den Griff bekommen werden als im Rahmen ganzer Nationen. Eine solche urbane Resilienz macht Städte zukunftsfähig. Sie bezeichnet die Fähigkeit einer Stadt, angesichts plötzlicher Schocks wie einer Pandemie oder einer Naturkatastrophe, aber auch langfristiger Belastungen wie Kriminalität oder sozialer Ungleichheit zu überleben und sogar zu florieren.

Städte sind und bleiben Magnete für kreative Köpfe. Sie sind die essenziellen Treiber von Innovation und Fortschritt, und sie sind die wirtschaftlichen Machtzentren der Welt. Ein differenzierter Arbeitsmarkt und das individuelle Freiheitsversprechen sowie der Reiz kultureller und sozialer Diversität werden auch in Zukunft mächtige Pull-Faktoren der Städte sein, die den Zustrom in urbane Räume auch in den nächsten Jahrzehnten nicht versiegen lassen. Im Gegenteil: die Urbanisierung wird weiter zunehmen.

Die strukturellen Grenzen verschwimmen

Das typische räumliche Denken ist von Dichotomien geprägt, doch sture Identifikationsmodelle mit dem Nationalstaat und ein wechselseitiges Stadt-Land-Bashing entsprechen heute nicht mehr dem zukunftsorientierten Zeitgeist: Transnationale Kooperationen sind ein essenzieller Teil sozioökonomischer Strukturen, Städtebündnisse übersteigen den Handlungsspielraum der Nationalstaaten und ländliche Regionen können schon lange nicht mehr als homogene Einheiten gesehen und behandelt werden.

Die Existenz einer fluiden Siedlungslandschaft ist in Deutschland etwa schon lange real, denn die meisten Deutschen leben weder in einem Dorf noch in einer glitzernden Großstadtmetropole, sondern in Klein- und Mittelstädten. Die Trennung von Stadt und Land ist aus dieser Perspektive überholt: Wir haben es stattdessen vielmehr mit hybriden Lebensräumen zu tun – nicht nur physisch, sondern auch mental: Denn auch Geisteshaltungen, Lebensstile und soziale Strukturen lassen sich nicht mehr eindeutig dem Stadt-Land-Schema zuordnen.

Verdörflichung“ der Stadt, „Verstädterung“ des Landes

Immer mehr Menschen wünschen sich eine entschleunigte Urbanität. Sie sehnen sich nach der „ländlichen Idylle“ und versuchen, diese zunehmend in den städtischen Raum zu integrieren. In der neuen Urbanität wird damit versucht, das Beste aus beiden Welten zu kombinieren. Die Corona-Pandemie hat auch ein stärkeres Bewusstsein für globale wirtschaftliche Abhängigkeiten geschaffen und damit auch den Wunsch nach Regionalität und vor allem auch lokaler, städtischer Autarkie vorangetrieben. Gerade gemeinschaftliche und offene Urban-Farming-Initiativen haben umwelttechnische, soziale aber auch wirtschaftliche Vorteile.

Im Zeitalter von Remote Work, explodierenden Online-Angeboten und gut ausgebauten Pendlerverbindungen minimiert sich die individuelle Abhängigkeit der Menschen von städtischen Zentren. Neben der „Verdörflichung“ der Stadt kommt es zu einer „Verstädterung“ des Landes. Urbanität löst sich damit endgültig vom physischen Raum: denn die Rückkehrer, Wochenend-Dörflerinnen und Landliebhaber bringen ihr urbanes Mindset mit und verändern ihr Umfeld entsprechend. Nicht selten gestalten sie Siedlungen neu, in denen sie ihre Vorstellungen eines optimalen gemeinschaftlichen Zusammenlebens verwirklichen können. So entsteht die Progressive Provinz.

Urbanes Wohnen im Umbruch

Die Corona-Pandemie hat die Bedeutung von Wohnung und unmittelbarem Umfeld zurück in den Fokus der substanziellen Bedürfnisbefriedigung geholt. Sie sorgt für eine Beschleunigung der stadtplanerischen Bestrebungen danach, das Quartier, das Grätzel oder den Kiez als die kleinsträumliche städtische Verwaltungseinheit wahrzunehmen und ihr enormes Potenzial zu nutzen. Während der Lockdowns lernten Stadtbewohnerinnen und -bewohner, ihre direkte Umgebung auf eine völlig neue Weise zu sehen und Nachbarschaften neu zu erleben. Direkt daran knüpft etwa das renommierte Konzept der 15-Minuten-Stadt an.

Das Problem des scheinbar überall knapp werdenden Wohnraums in der Stadt erfordert zudem möglichst smarte Konzepte. Zur Gewinnung von mehr bezahlbarem innerstädtischem Wohnraum hat sich als städtisches Raumkonzept vor allem im asiatischen Raum das der vertikalen Verdichtung durchgesetzt. Auch im europäischen Raum spricht man immer wieder von vertikaler Nachverdichtung, wenn es darum geht, innerstädtische Baupotenziale zu nutzen, anstatt weiter auf die grüne Wiese zu bauen. Dabei können in Städten natürlich nicht grenzenlos Freiflächen verbaut und Häuser aufgestockt werden. Dichte Bauweise braucht Struktur und System. Ein Bautrend, der immer mehr Befürworter und Anhängerinnen findet, sind Vertical Villages, in denen Supermarkt, Büro und Wohnung nur noch durch wenige Etagen getrennt sind.

Condensed Spaces wiederum illustrieren einen nachhaltigen und konstruktiven Umgang mit der städtischen Verdichtung: kleiner Wohnraum, große Lebensqualität. Im Lockdown wurden darüber hinaus bestehende Konzepte wie das aus Japan kommende Micro Housing oder das Co-Living-Prinzip neu erprobt, während der Zweitwohnsitz auf dem Land eine grundlegende Legitimation erfuhr. Micro Living, also das Wohnen auf engem Raum, wird weiterhin vor allem im Bereich des temporären Wohnens eine Rolle spielen. Gerade für moderne Nomaden, die ständig unterwegs sind und sich an vielen Orten zu Hause fühlen, ist dieses Konzept attraktiv.

Unter dem Vorzeichen der Klima- wie auch der Corona-Krise hat auch das Thema Gesundheit in der Stadtplanung spätestens jetzt oberste Priorität. Heutzutage besteht grundsätzlicher Konsens darüber, dass Gesundheit an sozioökonomische, gesellschaftspolitische und vor allem auch räumliche Komponenten gebunden ist und damit weit über den medizinischen Bereich hinausgeht. Das schafft einen großen Gestaltungsspielraum für Architektur und Raumplanung.

Unter dem Begriff Healing Architecture wird eine Strömung zusammengefasst, die Architektur nicht mehr nur an funktionale Aspekte bindet, sondern vielmehr die psychisch-emotionalen Qualitäten von materiellem Raum in den Vordergrund stellt. Die räumliche Umgebung wird zum Instrument der Gesundheitsprävention und nimmt eine bedeutende Rolle im Ausgleich zu Hektik, Stress und ungesunden Umwelteinflüssen ein.

Räumlich-virtuelle Interaktion

Auch vernetzte Technologien können dabei helfen, den Lebensraum Stadt lebenswerter und gesünder zu machen. Die idealtypisch technophile Stadt, die aus kapitalistischer Sicht zwar attraktiv erscheint, wird von Kritikern und Kritikerinnen aber vermehrt als fragmentiert betrachtet. Sie befürchten, dass die positiven Effekte, die man sich von der Digitalisierung und Technisierung der Stadt verspricht, allein durch intelligente Technologien nicht eintreten können. Stattdessen liefere man sich Risiken für soziale Ungleichheiten aus, weil Wissen und der Zugang sowie die Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien ungleich verteilt ist, gefolgt von räumlichen Polarisierungen und Transparenzproblemen.

Um das zu verhindern, hat sich aus dem Konzept der Smart City in den letzten Jahren der adaptierte Ansatz der Responsive City entwickelt. Damit werden Defizite und Lücken der bis dato technologiezentrierten intelligenten Stadt gefüllt – der Mensch als soziales und kulturelles Wesen statt als Analyseobjekt rückt wieder vom Zentrum der Aufmerksamkeit ins Zentrum der Handlung. Die Zivilgesellschaft wird zu einem aktiven Partner der städtischen Governance. Dabei nimmt die Zahl der intelligenten Geräte in einer Responsive City nicht ab: Den Unterschied aber macht der Umgang damit.

4 Zukunftsthesen zum Megatrend Urbanisierung

  • Urbane Resilienz macht Städte krisensicher.
    Städte sind aufgrund ihrer Dichte und Diversität krisenanfällig, aber auch besser in der Krisenbewältigung. Zukunftsfähige Städte setzen auf urbane Resilienz: Dabei werden flexible Wohn-, Arbeits- und Bildungsmodelle entwickelt, die bei Bedarf schnell an neue Situationen angepasst werden können. Die Stadt von morgen ist dynamisch und adaptiv.

  • Urbanität wird zur Mindset-Frage.
    Die Dichotomie von Stadt und Land löst sich immer weiter auf – es entstehen hybride und fluide Lebensräume. Individualisierte Lebensmodelle und Pluralisierung erreichen das Land, dörfliche Strukturen bilden sich auch in der Stadt. Die Progressive Provinz wird zum Experimentierraum für soziale Innovation.

  • Die urbane Nachbarschaft erlebt ein Comeback.
    Nachbarschaftsplanung ist aus aktuellen Stadtentwicklungskonzepten nicht mehr wegzudenken. Ansätze wie die 15-Minuten-Stadt, Superblocks oder Vertical Villages reagieren auf die Mobilitätswende und den Klimawandel ebenso wie auf das wachsende Bedürfnis nach sozialer Nähe im Wohnumfeld. Der Kiez wird zum zentralsten Element der segmentierten Stadt.

  • Städte der Zukunft sind sozial, klimagerecht und gesund.
    Das individuelle menschliche Wohlergehen ist unweigerlich und untrennbar mit der unmittelbaren Umgebung verbunden – und kann damit auch nicht losgelöst von der gesamtgesellschaftlichen Gesundheit und der natürlichen wie künstlichen Umwelt betrachtet werden. Soziale Gerechtigkeit, Klimawandel und Gesundheit werden unwiderruflich Teil der Stadtplanung.

Eine intakte Umwelt, soziale Stabilität, ganzheitliche Gesundheitskonzepte und partizipative Demokratie sind Eckpfeiler, die Städte von morgen lebenswert machen. Gleichzeitig gilt es, eine Balance zwischen Stadt und Land, lokal und global sowie analog und digital zu finden. Metropolen werden sich künftig noch stärker an den Anpassungsstrategien ihrer ländlichen Umgebung orientieren, und Dörfer werden in der globalisierten Welt enger angebunden. Globale Probleme werden zunehmend lokal gedacht und gelöst, Technologie und Mensch unterstützen sich dabei wechselseitig.

Der Kampf gegen den Klimawandel, der zunehmende Bedarf an qualitativem Wohn- und Freiraum und die Aushandlung zwischen Individualisierung und sozialer Sicherheit sind Themen, die die Stadtplanung in den nächsten Jahren enorm beschäftigen werden. Städte gewinnen – wie die gesamte Welt – zunehmend an Komplexität: Zentral wird ein Bewusstsein dafür, die Welt und die Städte als dieses komplexe System anzunehmen, um resilient auf Veränderungen reagieren zu können – sowohl baulich in der Stadt als auch mental bei ihren Bewohnerinnen und Bewohnern.

Urbanisierung 2024

Vom Großstadtrausch zur Rurbanisierung

Im Verhältnis von Großstadt und Provinz, Urbanität und Peripherie, Metropole und Land hat sich im vergangenen Jahrzehnt ein manifester politischer Konflikt herausgebildet: zwischen „Anywheres“ und „Somewheres“, zwischen mobilen und immobilen Schichten, zwischen hippen Stadtmenschen und wütenden Provinzbewohnerinnen und -bewohnern, die sich von den Strömen der Zukunft verraten und verkauft fühlten. Dieser kulturelle Riss bildete auch eine Antriebskraft des Populismus. Doch auch hier hat die Pandemie einen Kipppunkt erzeugt oder sichtbar gemacht.

Die Sehnsucht nach Natur und Weite, nach Autarkie steigt, der grenzenlose Zuzug in die Metropolen ist gestoppt. Ländliche Regionen werden wieder attraktiver, großstädtisches Leben verliert seinen Hype-Charakter. Diese Umkehrung ist historisch nichts Neues: Ungefähr alle 50 Jahre kehrt sich die Sehnsuchtsrichtung zwischen Stadt und Land um. Vor 200 Jahren, am Anfang der Industrialisierung, schuf die Romantik mit dem Symbol der blauen Blume eine Abkehrbewegung vom entfremdeten Stadtleben. In den 1970er-Jahren verloren Großstädte Einwohnerinnen und Einwohner, weil die Innenstädte eine Verwahrlosungskrise erlebten und eine junge Generation ihren Landsehnsüchten folgte. Heute sind manche Metropolen zu teuer, zu eng und zu stressreich geworden, und die Vernetzung ermöglicht zunehmend dislozierte Arbeitsformen.

So geraten die sozialen Topografien von Stadt und Land in eine Rekursionsschleife. In Großstädten entwickeln sich immer mehr „dörfliche“ Lebensstrukturen, mit neuen Mischfunktionen und kooperativen Lebensstilen, von Co-Living, Co-Working und Co-Gardening bis zur 15-Minuten Stadt.

Auf der anderen Seite gibt es mehr „Renaissance-Dörfer“, in die wieder soziales Leben einzieht. Attraktivere Klein- und Mittelstädte entwickeln Innovationskonzepte, um Jüngere und Kreative anzuziehen. Kurzum: Ländliche Strukturen verstädtern, großstädtische Landschaften verdörflichen. Diesen Konversionsprozess nennen wir Rurbanisierung – die rurale Redefinierung der Urbanisierung.

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