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Willkommen bei uns, einem Team engagierter Zukunftsforscherinnen und Zukunftsforscher, das Organisationen auf ihrer Reise in die Zukunft unterstützt. Unsere Expertise fließt in Publikationen und Modelle ein, während wir Unternehmen bei Vision, Strategie, Innovation und Positionierung beraten. Gemeinsam gestalten wir eine erfolgversprechende Zukunft.

Wir unterstützen Organisationen auf ihrem Weg in die Zukunft. Eine datenbasierte und systemische Anwendung der Zukunftsforschung ist dafür handlungsleitend. Sie mündet in Publikationen, Tools, Trendradaren und in der Beratung zu Vision, Positionierung, Strategie und Innovation.

Gemeinsam in die Zukunft

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Grenzen überschreiten – individuell, organisational, gesellschaftlich

Warum unser Identitätsverständnis die Voraussetzung für Zukunft bildet – auch für ein neues Europa. Ein Artikel von Harry Gatterer und Prof. Dr. Stefan Tewes.

Ob wir es bemerken oder nicht: Tag für Tag ziehen wir Striche. Wir unterscheiden und markieren, differenzieren, ordnen ein, filtern Relevantes von Unwichtigem. So funktioniert unser Gehirn. Jede Unterscheidung ist ein Strich, der trennt und den wir mit Wörtern flankieren, um die getroffene Unterscheidung begreifbar zu machen. So entstehen Kategorien, aus denen sich letztlich eine Ober-Kategorie bildet: unsere Identität.

Identität beschreibt die Konstitution eines Innen in der ständigen Auseinandersetzung mit dem Außen: Was zu uns gehören soll (etwa Werte, Charakterzüge, Meinungen), nehmen wir auf der Innenseite der Unterscheidung auf, alles andere grenzen wir auf der Außenseite aus. Dabei markiert jedes Ja eine eindeutige Unterscheidung und setzt ein Nein ungesagt voraus: Wenn wir Ja sagen, sagen wir zugleich auch Nein – und umgekehrt. Ein Ja zum veganen Lebensstil ist auch ein Nein zum Fleischverzehr, ein Ja zur Nachhaltigkeit ein Nein zur Atomenergie. Auf alltägliche Weise entstehen so Grenzen, Identifikationen und ganze Weltbilderindividuell, organisational, gesellschaftlich. Die Trennstriche des Unterscheidens generieren Identitäten.

Solche Unterscheidungen sind bekanntlich oft nicht ganz eindeutig, denn die alltägliche Komplexität widerspricht klaren Grenzziehungen. Vor allem in tagesaktuellen Entscheidungen werden Jas und Neins fluide – ein Ja zur Nachhaltigkeit kann dann zum „Ja, aber im Moment doch Atomenergie“ werden. Doch die tiefer liegenden Denkmuster, die das Fundament unseres Handelns bilden und eine Position festlegen, bleiben davon unberührt: Ist der Trennstrich etabliert, liefert das Ja einen Fokus – und das Nein eine klare Abgrenzungsfolie.

In Zukunft wird es von immer größerer Bedeutung sein, genau diese Grenzen zu überschreiten: Denn nur das Überwinden von Trennstrichen, das Crossing, kann die Grenzen von Identitäten öffnen – und so die Voraussetzung schaffen zur Erweiterung eigener Horizonte. Im Überschreiten von Grenzziehungen, basierend auf der reflektierten Beobachtung von Ja und Nein, liegt die Kunst des Gestaltens. Sie wird zur Kerndisziplin des Zukunftshandelns.

Gut und Böse: Von Konkurrenz zu Kooperation

Die Markierung „gut“ wertet und legt emotional fest, welche Welt präferiert wird – im Gegensatz zur anderen, „bösen“ Seite der Unterscheidung, in die alles hineingepackt wird, was in der guten Welt nicht vorkommen darf. Die moralische Unterscheidung zwischen Gut und Böse funktioniert selbsterklärend: Gut ist gut, Basta. Daher fällt es so leicht, „Achsen des Guten“ zu bilden: Wer zu den Guten zählt, kann eindeutig sagen, wer die Bösen sind.

Dieses Spannungsfeld zwischen Gut und Böse finden wir überall, in der Politik, in der Wirtschaft, in Freundeskreisen und Familien. Immer wird dabei ein klares „Wir versus ihr“ produziert: Wir haben im Verkauf alles richtig gemacht – aber das Marketing hat nicht geliefert. Wir wissen Bescheid – aber die Kundinnen und Kunden sind ahnungslos. Der Feind ist immer im Außen. Doch erst mit der Überwindung der Trennstriche kann der Aufbruch in Richtung Zukunft gelingen. Erst das Crossing macht deutlich, dass jede Trennung eine Konstruktion ist, situationsabhängig und womöglich nur temporär gültig. Entscheidend ist es, in das „Land des anderen“ zu gehen und die Sichtweisen über das Trennende hinaus zu erkunden.

Im Alltag wirken die Gut/Böse-Unterscheidungen, die meist mit großer emotionaler Wucht vorgenommen werden, jedoch quasi unüberwindbar. Man operiert als Gegner, als Oppositionen – denn die Inszenierung des Trennenden stärkt immer auch das eigene Gute. Aus dieser Dynamik speist sich ein ewiger Wettbewerb. Das Prinzip der Konkurrenz ist daher tiefer in den kollektiven Erfahrungsraum eingeschrieben als die Idee der Überwindung. Die Kulturtechnik der Kooperation hat erst eine kurze Karriere und braucht noch Zeit.

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Dabei wird sie heute dringender denn je gebraucht. So können die meisten Unternehmen ein nächstes organisatorisches Level, etwa im Bereich IT, nicht aus eigener Kraft heraus erreichen: Verbindungen und Partnerschaften sind hier Grundvoraussetzung des Erfolgs. Trotzdem wird meist lieber der Aufbau eigener IT-Abteilungen forciert, manchmal mit Tausenden Mitarbeitenden. Auch das verweist auf die Fähigkeit zum Crossing als Grundvoraussetzung für das Zukunftsgelingen: Das Überwinden von Trennstrichen stellt die Weichen, um andere Sichtweisen in die eigene Perspektive zu integrieren.

Innen und Außen: Handlungsräume schaffen

Im Alltag müssen wir ständig Trennstriche ziehen, um überhaupt handlungsfähig zu sein. Als CEO eines Unternehmens fragen Sie sich vielleicht: Wen ziehe ich in strategischen Fragen ins Vertrauen, wer ist im Inner Circle? Auch wenn Sie ein Konzertticket kaufen, erwerben Sie Zugang zu einem Innen. Das Innen ist immer mit einer Knappheit ausgestattet. Es ermöglicht eine Form von Zugehörigkeit, die uns in einer Welt voller Möglichkeiten zusehends entgleitet – und die Suche nach diesem Innen umso intensiver macht.

Für das Zukunftsgelingen ist die Unterscheidung zwischen Innen und Außen deshalb essenziell, weil die Vorstellung der Zukunft immer in einem Innen geschieht. Zukunft ist immer ein individuelles Konstrukt, ein Commitment von verschiedenen Menschen zu einer gemeinsamen Vorstellung von etwas, was noch nicht ist. Deshalb sind Zukünfte immer „Vor-Stellungen“: Annahmen, Hoffnungen, Ängste oder auch Träume innerhalb eines Innen, die bestimmte Formen von Zukunft sichtbar machen. Ob es ein Freundeskreis ist, der sich auf einen gemeinsamen Urlaub freut, oder ein ganzer Kontinent, der sich Energiesorgen macht: Das Innen ist wirklichkeitsbildend. Deshalb kann Zukunft nur dort erfolgreich sein, wo Menschen dasselbe Bild teilen. Wo sie Zugehörigkeit zur gemeinsamen Zukunft entwickeln.

Natürlich ist auch das Außen wichtig für die Herstellung von Zukunft, denn dort liegen die Trends und Möglichkeiten. Die Dynamiken und Veränderungen des Außen prägen die Wahrnehmung im Innen. Zukunft liegt deshalb in einer klugen Beobachtung des Außen, bei gleichzeitiger Gestaltungsfreiheit des Innen.

Immer ist es das Crossing, die Überwindung des Trennstrichs, die Integration von Innen und Außen, die den Handlungsraum für Zukunft erzeugt. Ob der Handlungsraum dann tatsächlich Handlungen generiert, ist eine Entscheidung des Innen. Sie hängt von einer zentralen Zukunftskompetenz ab: Adaptivität – der Fähigkeit, sich aus einem verständlichen Innen heraus an den Wandel im Außen anzupassen.

Zugehörigkeit: Ein Fundament des Wandels

Wichtig ist dabei die Unterscheidung zwischen Veränderungen im Innen und Außen. Viele suchen Veränderung im Außen, doch tatsächlich werden Veränderungen immer im Innen gestaltet. Viel entscheidender als die Frage, welcher Trend sich durchsetzen wird, ist deshalb die Frage, welcher Trend die eigene Identität fördert. Identität ist der Zukunftsanker – gerade im Highspeed-Zyklus von Trends. Daher geraten Unternehmen, die alle drei Jahre das Management wechseln, in Schwierigkeiten: Aus einer andauernden Suche kann keine Zugehörigkeit entstehen. Nehmen Unternehmen die Aufgabe der Identität aber ernst, stehen sie auch vor der Frage: Was ist nicht Teil des Unternehmens? Hier führt Abgrenzung zwangsläufig zum Kern – und schafft die Grundlage für Zugehörigkeitsgefühle.

Die Unterscheidung zwischen „zugehörig“ und „nicht zugehörig“ bildet eine klare Idee: Was wir gut finden, identifiziert einen Teil von uns selbst im anderen. Wir suchen nach dem Gleichen, das unserem Innen entspricht. Ist man aber im Innen, tun sich neue Unterscheidungen auf: Deutsche in Deutschland sind plötzlich Bayern oder Berlinerinnen. Daher kann man den Hafen von Rostock auf einer Tourismusmesse in New York als „Hafen von Berlin“ verkaufen, nicht aber in Deutschland. Dort, wo wir hauptsächlich unsere Zeit verbringen, ziehen wir die Grenzen des Innen enger.

Die Informationsflut über digitale Kanäle stellt uns dabei vor neue Herausforderungen. Teils übernimmt die Künstliche Intelligenz auch schon die Ziehung der Trennstriche – etwa wenn sie uns auf Basis unseres Verhaltens vorschlägt, mit wem wir ein Date haben sollten, oder wenn sie uns Verschwörungstheorien präsentiert, für die wir anfällig sind. Auch in der Kreditvergabe von Banken existieren diese automatisierten Trennstriche: Angestellte oder Selbstständiger, Stadtteil A oder B. Wirklichen Halt können wir letztlich nur in der Beobachtungsgabe finden: Je mehr wir die Ziehung von Trennstrichen (vor allem unsere eigenen) identifizieren können, desto mehr Halt können wir in fluiden Zeiten erfahren. Halt führt zu Haltung – und zu klareren Zukunftsvorstellungen.

Die nächste europäische Identität

Die Summe unserer Trennstriche und Innen/Außen-Differenzen, unsere Identität, ist entscheidend für die Gestaltung von Zukunft. Doch Identität ist ein komplexes und vielschichtiges Konstrukt. Wer immer nur auf (s)eine Seite setzt, springt zu kurz: Es geht darum, beide Seiten im Blick zu behalten. Deshalb bleiben pauschale Zuschreibungen von „Ost“ und „West“, die sich heute wieder verfestigen, immer banal. Es wird dauern, dies als Gesellschaft zu durchblicken. Doch erst durch die Überwindung alter Unterscheidungen kann sich eine neue Identität bilden. In unserem Fall heißt das: eine neue Identität Europas.

Was ist die Identität Europas? Eine westliche Gesinnung? Ein Friedensprojekt? Eine Datenschutzpolizei? Ein Subventionsbasar? Haben die „Rechten“ auch ein „Recht“ auf Europa? Die Identität Europas sollte nicht voreilig definiert werden. Es wird eine längere Aufgabe sein, die vielen Trennstriche zu sammeln und immer mehr erkennen zu lernen, wer oder was Europa sein könnte – und was nicht. Die übergeordnete und entscheidende Frage lautet dabei: Ist Europa das Innen? Wollen wir Europa als Ausgangspunkt unserer Zukunft setzen? In vielen Ländern Europas ist das nicht so klar: Sagen wir Ja zu einem ganzen Europa – oder wahren wir das Nein zugunsten lokaler Machtvorteile?

Um diese Grundentscheidung treffen zu können, braucht es ein reflektiertes Verständnis von Trennstrichen und Crossings. Wo sind die Grenzen, die wir uns heute (noch) setzen – und welche Trennstriche müssen wir verschieben, um den Erfahrungsraum der eigenen Identität zu erweitern? Europa hat mit seiner langen Tradition schon einige Identitätswendungen erlebt, immer wieder wurden Trennstriche verschoben. Als Erfahrungsräume säumen diese Grenzverschiebungen den Weg aus der Tiefe der Erinnerung in die Weite der Vorstellungen, aus der Vergangenheit in die Zukunft.

Neue Trennstriche zum globalen Außen

Ein gewandeltes Europa wird sich nicht an einem bestimmten Tag offenbaren, sondern vielmehr in Übergängen sichtbar werden. Das Zusammenspiel aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist dabei essenziell: Aus der Vergangenheit können wir lernen, warum (das alte) Europa nicht mehr funktioniert. Aus der Zukunft können wir lernen, wozu (das neue) Europa benötigt wird. Und in der Gegenwart können wir erkennen, welche Handlungsräume wir haben.

Dabei zeigen uns die zahlreichen fordernden Umbrüche und Übergänge unserer Zeit, vom Ukraine-Krieg bis zur Klimakrise, von neuen Nationalgesinnungen bis zu erodierenden Arbeitsmärkten, Grenzen auf. Nun gilt es die Außenseite dieser Trennstriche kennenzulernen und daraus Zukünfte zu gestalten. Als Europa müssen wir die Trennstriche zum globalen Außen neu verorten – und eine Haltung einnehmen.

Dafür können wir mit Migrantinnen sprechen und ihre Seite der Welterzählung erleben. Wir können mit Künstlern träumen und ihre Seite der sinnlichen Erfahrungen teilen. Wir können mit Menschen aus Russland sprechen und ihren Schmerz und ihre Freude fühlen. Wir können mit Vorreiterinnen und Pionieren neuer Technologien sprechen und lernen, wie sanfter Fortschritt gelingt. Wir können nationale Steuern abschaffen zugunsten einer europäischen Gesamtidee. Wir können Grenzen überwinden, auch zwischen Innen und Außen. In jedem Fall erweitern wir mit der Überwindung von Trennstrichen unseren Horizont der Zukunft.