Haben wir einen Mangel an Visionen?

Oder sollten wir lieber zum Arzt gehen, wenn wir welche haben?

Früher, so heisst es, gehörten Visionen noch zu unserem täglichen Kanon.  Damals wären “die Menschen” für eine gute, gerechte Gesellschaft auf die Strasse gegangen. Vor allem die Jüngeren, deren heilige Pflicht, die Revolte, die gesellschaftlichen Verhältnisse voranbrachte. Heute geht niemand mehr für Utopien auf die Barrikaden, ausser vielleicht, um einen Strommast oder ein Ausländerheim zu verhindern.

Die Klage scheint auf den ersten Blick auch aus individualpsychologischer Sicht berechtigt: Menschen sind  Zukunftswesen! Wenn wir keine Vorstellung eines besseren Morgen haben, verkümmern wir. Unsere Motivation steht in Relation zu Bildern und Vorstellungen, die unser Dopamin-System aktivieren. Ein beliebiger Blick in Wohnanlagen am Rand  der Städte zeigt die Verheerungen, die ein Mangel an innerer Zukunft in den Seelen anrichten kann.

Die deutsche Psychologin Gabriele Oettingen hat jetzt ein interessantes Buch über die Funktion von Zukunftsvisionen herausgebracht.  In “Rethinking Positive Thinking” beschreibt sie jahrelange Tests und Experimente im Kontext  von Erwartungen, Hoffnungen und Zukunfts-Bildern. Oettingen, die am Institut von Martin Seligmann,  dem Begründer der Positiven Psychologie in New York  forschte, kam dabei zu verblüffenden Ergebnissen: Zu STARKE positive Visionen haben NEGATIVE Effekte.

Studenten mit einer besonders klaren Vorstellung vom grossartigem  Leben nach dem Examen - jene, die sich lebhaft Weltreisen, Karrieren, Familiengründungen vorstellten - gerieten danach leicht in labile Zustände. Sie verdienten weniger, waren unglücklicher und neurotischer. Übergewichtige Frauen, die sich intensiv als schlank und begehrenswert mentalisierten, nahmen in einem Diätprozess WENIGER ab als ihre gelasseneren Freundinnen. Das vorherrschende Ratgeber-Dogma, nach dem man sich SCHLANK DENKEN kann, wurde glatt widerlegt.

Oettingen führt einen wesentlichen Teil dieses Effekts auf den  “Gegenwartseffekt der Zukunft” zurück.  Bilder eines gelungenen Morgen erzeugen eine mentale Komfortzone, eine imaginäre Blase, in der wir im Grunde gerne sitzenbleiben wollen.  Wenn man die Belohnungs-Endorphine bereits durch Vorfreude “abgeholt” hat - wozu sich dann noch anstrengen? Visionen handeln also gar nicht von der Zukunft - sie dienen nur dem Komfort der Gegenwart.

Nassim Taleb, der “Erfinder” der Schwarzen Schwäne, argumentierte in seinem letzten Buch “Anti-Fragilität” ähnlich.: Wenn ein Unternehmen/ ein Individuum/ eine Gesellschaft, die Zukunft genau PROGNOSTIZIERT, ist das Resultat nicht Sicherheit, sondern FRAGILITÄT.  Denn nun bewegt man sich in einem Tunnel, in dem jede Abweichung nur noch stört und irritiert. Vor lauter Zukunft sieht man die Wirklichkeit nicht mehr. Das bessere Morgen entsteht jedoch nicht durch Realisierungen fester Pläne, sondern durch Adaptionen, durch virtuosen Umgang mit dem Unvorhergesehen - durch Kreativität und  Vitalität! Unser “Coping”-System wächst an Widerständen und   Hindernissen - bisweilen auch am Scheitern. 

Gabriele Oettingens Buch arbeitet auch den fundamentalen Unterschied zwischen HOFFNUNG und OPTIMISMUS heraus: Während der Optimist einer reduktionistischen Ideologie huldigt - alles wird gut! - bewegt sich der Hoffende zwischen den Wünschen und Wirklichkeiten hin- und her. Nur so entsteht Lernen, reale Veränderung. Oettingen schlägt dabei einen pragmatischen “Traumstil” vor, den sie WOOP nennt: WISH-OUTCOME-OBSTACLE-PLAN. “Zunächst überlegt man, welcher Wunsch einem wichtig ist, und malt sich die Zukunft aus. Dann erforscht man die Widerstände: Ängste Ambivalenz, Zorn, Energiemangel. Man visioniert also auch die Hindernisse. Und dann überlegt man, wie sich die Hindernisse überwinden kann.” (Interview in der ZEIT vom 4. 12.14).

Oettingers Forschungen machen klar, warum Motivationstrainer meistens scheitern. Und warum “Zielvereinbarungen” in Unternehmen eine heikle Sache sind. Ein fixiertes Ziel wirkt kontraproduktiv, weil es entweder bereits ins eigene Erwartungs-System “eingepreist” wird. Oder es wird zum Erwartungs-Terror, der eher desmotiviert. Auh hier gilt: Motivierend für unser Hirn ist immer das Überraschende, das Nicht-Erwartete.

Die Erkenntnisse der kognitiven Motivations-Psychologie haben auch enorme Auswirkungen für die Disziplin der Zukunftsforschung selbst, der ja der “Visionismus” gewissermassen in die Wiege gelegt wurde.  Eine “Vision” haben such die Bärtigen, die derzeit in Syrien Mord und Verderben im Namen der Religion über die Menschheit bringen. Die grossrussischen “Visionen” des Wladimir Putin tragen alle Zeichen einer opiathaften Utopie: Realitätsfern, pompös, heroisch, unterkomplex. Bei manchen Visionen sollte man tatsächlich schleunigst den Arzt aufsuchen. Aber dann findet man vor lauter Aufregung den Weg nicht mehr. 

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Dieser Artikel ist in folgenden Dossiers erschienen:

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Matthias Horx

Matthias Horx ist der einflussreichste Trend- und Zukunftsforscher im D-A-CH-Raum und Experte für langfristige Entwicklungen in Gesellschaft und Wirtschaft.