In einer zunehmend unverbindlichen, virtuellen und schnellen Welt steigt die Sehnsucht nach wirklicher Empathie, ehrlicher Kommunikation und authentischem Kontakt in ungezwungener Atmosphäre. Es ist ein Rückzug in die Heimeligkeit, der in den Wintermonaten spürbar wird – aber eigentlich das ganze Jahr in uns schwelt. Im Zeitalter des Individualismus und der Multigrafien werden Lebensstile durchweg freier gestaltet: Cocooning, also der Rückzug in die eigenen vier Wände, wird zum sozialen Resonanzraum.
Nach einer intensiven Zeit, in der Menschen wenig bei sich und auch wenig vollständig im analogen Face-to-Face-Kontakt miteinander waren, hat die Welle der Achtsamkeit dazu geführt, dass das Ich aus dem In-sich-Suchen hinaustritt und wieder echte Resonanzmomente im Wir sucht. Basis ist hierfür ein Ort, der Heimat vermittelt.
Lagerfeuer des 21. Jahrhunderts
Social Cocooning ist eine neue Lagerfeuermentalität, deren Kern ein auf Kontakt basierendes Zusammentreffen von Menschen in entspannender Wohnzimmeratmosphäre ist. Die Aktualität des Social Cocooning zeigt sich unter anderem in der Liste der „Wörter des Jahres 2016“ des britischen Wörterbuchs Collins („Top 10 Collins Words of the Year 2016“, collinsdictionary.com, HarperCollins Publisher). Zwei der unter die Top Ten gewählten Begriffe beschreiben wichtige Aspekte des neuen Lebensstils des Social Cocooning: Hygge sowie JOMO.
„Hygge“ gehört in Dänemark fest zur Alltagskultur, auch in anderen skandinavischen Staaten wie Norwegen praktiziert man diese Form der Lebensart. Der Begriff, der ursprünglich aus dem Altnordischen stammt, bedeutet heute in Dänemark: Gemütlichkeit, Gefühl von Wohlbefinden,
Hygge impliziert eine komplexe Emotion und Situation, die nur auf der Grundlage einer Wir-Qualität entstehen kann
Entspannung sowie angenehme Atmosphäre, besonders in Gemeinschaft mit Familie oder Freunden und gerne verbunden mit gemeinsamen Mahlzeiten, Spielen oder Vergleichbarem (Store norske leksikon, snl.no/hygge). Hygge ist also mehr als das Aufsuchen eines Ruheortes, um Erholung zu erhalten, es impliziert eine komplexe Emotion und Situation, die nur auf der Grundlage einer Wir-Qualität entstehen kann.
JOMO ist die Abkürzung für „The Joy Of Missing Out“ (Freude am Verpassen) und beschreibt den Trend, dass immer mehr Menschen jeglichen Alters das Risiko eingehen, einen tollen Event zu verpassen, um stattdessen die Zeit beschaulich zu verbringen. Angelehnt ist das Kürzel an FOMO für „Fear Of Missing Out“ – einer Verpassensangst, die seit der Eventisierung und Verbreitung von sozialen Medien um sich greift. Statt der Suche nach Resonanz im Außen, beim Weggehen oder der Selbstdarstellung, wird beim Joy Of Missing Out erlebt, dass die Resonanz nicht in einer inszenierten, temporären Event- und Freizeitkultur zu finden ist.
Social Cocooning als Resonanzphänomen auf ein unsicheres Weltgefühl
Social Cocooning kann als eine Antwort, eine Reaktion auf diese sich im Wandel befindende politische und ökonomische Weltsituation betrachtet werden. Wie so oft bei sozialen Trendphänomenen begann es mit einem Food-Trend. Ganz gleich, ob privat inszenierte Dinner-Duelle, Social-Dining-Events oder Supper Clubs, in deren Rahmen Fremde über Plattformen wie „Eatwith“ in die eigene Küche zum Essen eingeladen werden – Menschen begannen sich jenseits der wachsenden Außer-Haus-Kultur mit ihrem Überangebot an Food Trucks und Gastronomie alternativ auf den kreativen und gemeinschaftlichen Prozess des Essenzubereitens zu konzentrieren. Küchen als Treffpunkt haben seit jeher etwas Heimeliges, in dessen Rahmen im 21. Jahrhundert das nachinszeniert wird, was man gemeinhin unter Großfamilie versteht oder idealisiert. Social Cocooning geht über solche „Familien“-Events hinaus, es ist mehr die Sehnsucht nach dem „Tribe“, all jenen Zusammenschlüssen, die Halt geben, Gehör schenken, Verbindung ermöglichen.
Social Cocooning ist mehr als eine äußerliche Inszenierung von Hygge
Doch Social Cocooning geht weit über Kaminfeuer, Kerzen, Kekse, Brotbacken und Stricken hinaus. So wenig es ausschließlich ein Food-Trend ist, so wenig ist es ein reines Thema der Wohnkultur oder die Inszenierung eines skandinavischen Replikats. Das gemeinsame Element impliziert stets eine wie auch immer geartete Verbindung zum Gegenüber, die mehr ist als ein zufälliges Beisammensein. Das gemeinsame Moment beim Social Cocooning erfordert nicht zwangsläufig Kommunikation, es geht um ein Miteinander, das auch stumm verbinden und für Resonanz sorgen kann.