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Wer ein Bewusstsein seiner eigenen Würde entwickelt hat, ist nicht mehr verführbar

Emotionale Zustände sind wichtige Botschaften an uns selbst: Gerald Hüther, Neurobiologe, im Interview über die Bedeutung von Emotionen im Leben der Menschen und die Erlernbarkeit des Unterschieds zwischen kurzfristigem Glück und langfristiger Zufriedenheit. 

Herr Hüther, was sind Emotionen aus neurowissenschaftlicher Perspektive, und wozu haben wir sie?

Emotionale Zustände sind im Grunde Botschaften an uns selbst: dass unser Tun entweder dazu führt, dass wir einen Zustand erreichen, der uns anstrebenswert erscheint, oder aber, dass wir uns weit von diesem Zustand zu entfernen beginnen. Dann wird im Hirn eine Inkohärenz ausgelöst, die zu einer sich ausbreitenden Erregung führt, die auch tiefer liegende Bereiche des Gehirns erfasst. In diesen Bereichen werden Netzwerke aktiviert, die wiederum sehr eng mit körperlichen Reaktionen verbunden sind. Das nehmen wir dann als eine emotionale Reaktion wahr. Das heißt, eine emotionale Reaktion ist immer auch eine körperliche Reaktion. Diese Emotionen helfen uns, uns im Leben zurechtzufinden. Denken, Fühlen und Handeln sind dabei hirntechnisch immer untrennbar miteinander verbunden. Seit der Aufklärung hat sich aber „Das Unterdrücken von emotionalen Botschaften führt dazu, dass Menschen den Kontakt zu sich selbst verlieren.“ in unserem Kulturkreis die Ansicht herausgebildet, Emotionen seien ein Rudiment aus der Steinzeit und würden uns daran hindern, unser Leben selbstbestimmt zu gestalten und entsprechende Leistungen zu erbringen. Deshalb wurde immer wieder versucht, diese emotionalen Prozesse zu diskreditieren oder zu unterdrücken.Heute sorgt eine entsprechende Erziehung dafür, dass Menschen glauben – und oft auch ihr Leben so gestalten –, man könne seine Gefühle abtrennen von dem, was man sagt und denkt. Das Unterdrücken von emotionalen Botschaften führt dazu, dass Menschen ihre eigentlichen Bedürfnisse überhören und vernachlässigen, dass sie den Kontakt zu sich selbst, zu ihren Emotionen verlieren. Eine Person spürt dann gar nichts mehr und funktioniert nur noch. Gerade die Affektregulation ist aber eine der großen Fähigkeiten des Menschen. Verhindert man, dass junge Menschen lernen, Affekte zu erkennen und zu reflektieren, eignen sie sich später als Objekte für emotional manipulative Strategien. So nutzen Unternehmen, die auf Gewinnmaximierung setzen, die emotionalen Zustände ihrer Mitarbeiter bewusst für ihre Zwecke. In den USA gibt es professionelle Empathieseminare, in denen Führungskräften beigebracht wird, wie man bei Mitarbeitern Vertrauen weckt, indem man ihnen empathische Reaktionen vorspielt. Hier werden gezielt bestimmte emotionale Reaktionsmuster erzeugt. Das funktioniert aber natürlich nur bei den Menschen, die schon gar keinen Zugang mehr zu ihren eigenen emotionalen Zuständen haben.

Andererseits scheint es doch so, als würde neuerdings ein ganz besonderes Augenmerk auf die emotionale Seite der Menschen gelegt. Eine ganze Industrie strebt danach, immer wieder aufs Neue Glücksgefühle zu erfüllen und zu fördern. Sind die Menschen dabei nicht ihren Emotionen nahe?

Aus neurobiologischer Perspektive empfindet man einen Zustand des Glücks immer dann, wenn man einen inkohärenten Zustand durch eigene Anstrengung in einen kohärenten Zustand verwandeln kann. Das Hirn strebt diesen Zustand ständig an, weil der Energieverbrauch so am niedrigsten ist. Wenn es Menschen gelingt, inkohärente Zustände wieder kohärenter zu machen, wird Energie frei. Im Mittelhirn werden dann Botenstoffe ausgeschüttet, die ähnlich wie Kokain und Heroin wirken. Diesen rauschartigen Zustand würde ich als Glück bezeichnen. Hirnforscher nennen diese Hirnregionen Belohnungszentren.

Es gibt Studien, die zeigen, dass man schon Tiere dazu bringen kann, sich so lange mithilfe von Elektroden in diesen Belohnungszentren selbst zu stimulieren, dass sie am Ende sogar sterben. Das zeigt, dass die bloße Befriedigung eines Bedürfnisses – die Wiederherstellung eines kohärenten Zustands – per se noch kein Glück sein kann. Denn das Hirn kann nur schwer unterscheiden, ob die Lösung, die man da findet, auch langfristig günstig ist. Werden immer wieder kurzfristige Glückserlebnisse herbeigeführt, werden die dabei aktivierten Vernetzungen im Hirn immer stabiler, sodass ein Glückszustand immer leichter und effizienter herbeigeführt werden kann – und dann fängt er an, öde und schal zu werden. Langfristig glücklich wird man erst, wenn man in seinem Leben viele unterschiedliche Erfahrungen macht, wie sich inkohärente Zustände wieder kohärenter machen lassen. Aus der Summe dieser Erfahrungen erwächst ein Gefühl, das die Hirnforscher Kohärenzgefühl nennen. Durch die bewusste Auseinandersetzung und Überwindung von schwierigen Situationen wird dieses Kohärenzgefühl immer wieder gestärkt. Dann ist man wirklich und nachhaltig glücklich, hat Lust, sich weiterzuentwickeln, bleibt gesünder und hat Freude am Leben.

Wie verhalten sich Menschen, die nicht diesen kurzfristigen, künstlichen Glücksgefühlen hinterherlaufen, sondern ihr Glück in sich selbst suchen?

Diese Menschen setzen sich eigene Schwerpunkte im Leben: ein übergeordnetes langfristiges Ziel, das einen besseren kohärenten Zustand verspricht als die unterwegs auftretenden Schwierigkeiten, die man vielleicht mit kurzfristigen Lösungen kohärenter machen könnte. Dabei sind Ziele, die man erreichen kann, aber nicht so günstig, denn hat man sie erreicht, ist auch die langfristige Orientierung weg. Was wirklich Orientierung bietet, ist ein Anliegen. Anliegen kann man auch teilen: Gemeinsame Anliegen liegen allen Beteiligten gleichermaßen am Herzen, alle sind dann bereit, etwas auf sich zu nehmen. Anliegen sind nicht so konkret wie Ziele. Man kann sie eigentlich nie erreichen, aber man hat jeden Tag gute Gründe, sich dafür einzusetzen. Aus neurobiologischer Sicht wirkt das kohärenzstiftend: Statt Arzt werden zu wollen, könnte man sich zum Anliegen machen, anderen Menschen zu helfen, wieder gesund zu werden. So nähert man sich mit jeder kleinen Aktivität als Arzt ein Stück dem langfristig gewählten Anliegen. Ein Anliegen ist eine Orientierung für das, was man tut. Es verhindert, dass man sich durch kurzfristige Ziele ablenken lässt. Es gibt eine Richtung für die eigene Weiterentwicklung und das eigene Handeln. In der heutigen Konsumgesellschaft ist es für Menschen allerdings fast unmöglich, langfristige Anliegen zu verfolgen. Dafür dürften Menschen sich nicht einreden lassen, was sie noch alles brauchen, um glücklich zu sein. Die Leistungs- und Konsumgesellschaft baut darauf, dass Menschen keine langfristigen, gemeinsamen Anliegen entwickeln. Heute sind Menschen noch überwiegend Manipulationsmasse für ein System, das mehr Produkte herstellt und vertreibt als es Kunden gibt. Ständig müssen Kunden gewonnen werden – und das geht nur, wenn diese hinreichend unorientiert sind.

Wenn Menschen lernen, auf ihre Emotionen zu hören, stünde uns also ein grundlegender Wandel in der Gesellschaft bevor. Was bedeutet das für Unternehmen?

Wir erleben heute, dass hierarchische Prozesse nicht mehr dazu geeignet sind, die Unterschiedlichkeit und Komplexität der Menschen und des Lebens weiter steuern zu können. Dadurch ändern sich die Bedeutsamkeiten für Menschen allmählich. In manchen Bereichen ist das schon spürbar, beispielsweise wenn sich Personalchefs darüber beklagen, dass da eine junge Generation ankommt, die keinen Wert mehr auf die alten Strukturen oder auf Machtsymbole wie einen Dienstwagen legt. Schon jetzt ist also eine Generation nachgewachsen, die mit den alten hierarchischen Strukturen abgeschlossen hat. Diese Tendenz ist weltweit zu beobachten. Die jungen Menschen, die sich gegen hierarchische Strukturen wehren, entwickeln ein eigenes inneres Ordnungssystem. So etwas wie einen inneren Kompass, der ihnen hilft, ihre Menschlichkeit zu bewahren. Ich nenne das Würde. Wer ein Bewusstsein seiner eigenen Würde entwickelt hat, ist nicht mehr verführbar.

Geht man davon aus, dass größere Schichten in der Bevölkerung diese Bewusstwerdung ihrer eigenen Würde durchlaufen, lassen sich die Konsequenzen für eine Konsumgesellschaft erahnen. Welche Fragen müssen sich Unternehmer vor diesem Hintergrund stellen? Was machen Unternehmen, die den Wandel verstanden haben, bereits anders? Anders macht es zum Beispiel der Gründer der dm-Kette Götz Werner. Er sieht den primären Unternehmenszweck darin, dass die Mitarbeiter glücklich sind und gern in dem Unternehmen sind, weil sie hier spüren, dass ihre Arbeit sinnvoll ist und sie sich weiterentwickeln können. Oder der Hotelkettenbetreiber Upstalsboom: ein Unternehmen, das mit den Gewinnen, die es erwirtschaftet, in Ruanda Schulen baut. Für die Mitarbeiter entsteht so ein Anliegen, eine völlig andere Motivation. Sie sind nicht mehr benutzbar oder manipulierbar durch die Firma. Dafür muss ein Unternehmen zumindest ökonomisch stabil sein – aber das Wichtigste ist, dass es ein Anliegen verfolgt, das Menschen dient und nicht auf Kosten von Menschen Gewinne machen will. Das ist der große Unterschied. Unternehmen, die nur auf Gewinnmaximierung aus sind, verlieren ihre Innovationskraft und gehen an sich selbst zugrunde. Als Biologe und Hirnforscher habe ich erkannt, dass alle lebenden Systeme sich selbst organisieren, sei es die Menschheit oder ein Unternehmen. Um ein Unternehmen langfristig zu stärken, muss man deshalb die Barrieren beiseiteräumen, die Selbstorganisation verhindern.

Dieses Interview mit Gerald Hüther ist ein Auszug aus der Studie Siegeszug der Emotionen – Erfolgreich in die intensivste Wirtschaft aller Zeiten.

Als einer der bekanntesten Hirnforscher Deutschlands beschäftigt sich Gerald Hüther mit dem Einfluss früher Erfahrungen auf die Hirnentwicklung, den Auswirkungen von Angst und Stress und der Bedeutung emotionaler Reaktionen. 2015 gründete er die Akademie für Potentialentfaltung und übernahm ihre Leitung als Vorstand. Er ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen und Sachbücher.

Image Credits: www.gerald-huether.de