Das Ende der Rente

Wie können wir 10 Milliarden Menschen auf der Erde nicht als Gefahr, sondern als Chance begreifen? Cradle to Cradle-Pionier Michael Braungart über ein neues Gesellschaftsmodell.

Von Prof. Dr. Michael Braungart (09/2015)

Inzwischen gibt es allein in Deutschland insgesamt mehr als 22 Millionen Rentner. Die Menschen werden 65 und dann nach Mallorca “entsorgt”, und sie meinen, das wäre der wohlverdiente Ruhestand. Als die Rente 1891 mit der Bismarckschen Sozialgesetzgebung eingeführt wurde, war die Lebenserwartung der Menschen in Mitteleuropa gerade einmal halb so hoch als heute. Damals war das Rentenalter zunächst mit 70 Jahren vorgesehen. Man hatte eigentlich die Rente nur für diejenigen eingeführt, die man sonst nicht tot gekriegt hatte. Wenn man denselben Prozentsatz an Menschen in Rente schicken würde wie damals, würde nach meinen Berechnungen das Rentenalter bei 88,2 Jahren liegen. 

Wir reden von einer alternden Gesellschaft, aber eigentlich war die Gesellschaft noch nie so jung. Ein heute 60-Jähriger hat mühelos das biologische Alter eines 40-Jährigen vor hundert Jahren. Ein solches System, wo mehr als jeder vierte Bewohner der Republik Rente bezieht und mehr als die Hälfte aller arbeitsfähigen Menschen diese aufbringen muss, ist auf Dauer weder finanzierbar noch menschlich fair. Häufig retardiert das Denken und die Allgemeinausbildung der Rentner dramatisch und sie büßen damit auch die Chance ein, weiterhin ein aktiver Teil der Gesellschaft sein zu können. Dies ist unmenschlich. Wie konnte es dazu kommen – und welche Perspektiven gibt es? 

Traditionell versuchen wir gut für die Wirtschaft, gut für die Gesellschaft, aber weniger schädlich für die Umwelt zu sein. Wenn wir lernen, auch für die Natur, die anderen Lebewesen, nützlich zu sein, dann könnten wir leicht auch zehn Milliarden Menschen auf der Erde sein. Eine Triple Top Line statt einer Triple Bottom Line. Durch die Umweltdiskussion haben wir das Gefühl bekommen, dass es besser ist, wenn wir nicht da sind. Wir reduzieren, wir vermeiden, wir minimieren – und denken, dies sei Umweltschutz und nachhaltig. Doch niemand wird geschützt durch weniger Zerstörung. Ist es Kinderschutz, wenn ich mein Kind nur fünfmal schlage, anstatt zehnmal? Dies wird zum Beispiel stark von der christlichen Religion unterstützt. Wenn nur der liebe Gott uns erlösen kann, dann sind wir böse und können nur versuchen, weniger schlecht zu sein. Für weniger schlecht sind wir aber viel zu viele Menschen auf der Welt. Wie sehr wir uns schuldig fühlen, auf dieser Welt zu sein, sieht man daran, dass kein einziges Biosiegel – auch nicht in Österreich, dem weltweit führenden Bioland – erlaubt, unsere eigenen Nährstoffe als Dünger zu benutzen. Dabei ist Phosphor viel seltener als Öl. Ohne die Aufnahme vom Phosphat können wir keine Knochen und Zähne haben und keine Energie speichern.

Es geht nicht darum, die Natur zu romantisieren und als „Mutter Natur“ zu bezeichnen, sondern die Natur als Partnerin, als Lehrerin zu betrachten. Von der Natur zu lernen, aber auch stolz auf den eigenen Fußabdruck zu sein. Wie wäre es also, nicht weniger schädlich zu sein, sondern nützlich. Nicht den ökologischen Fußabdruck zu minimieren, sondern einen positiven Fußabdruck zu verursachen. Die Menschen reden immer über die Grenzen des Planeten. Diese Sichtweise ist völlig absurd. Der Planet Erde hat einen Energieeintrag, der über 10.000 Mal höher ist, als die Menschen an Energie brauchen. Es gilt, den Energieeintrag so zu nutzen, dass er produktiv ist. Darum ist es wichtig zu verstehen, dass die Einsteinsche Formel E = mc2 bedeutet, dass ein großes E in ein großes m umrechenbar ist. Es wäre deshalb ganz leicht, durch den Energieeintrag, einen Planeten zu schaffen, der mindestens fünf Planeten der bisherigen Kapazität des Planeten entspricht. 

Als die Menschen Jäger und Sammler waren, war bei fünf Millionen Menschen die Grenze des Planeten erreicht. Die Grenze des Planeten verschob sich, indem Menschen sesshaft wurden und Landwirtschaft betrieben. Dadurch waren auf der Erde etwa 500 Millionen Menschen ernährbar. Als man die industrielle Landwirtschaft entwickelte, verschob sich durch Kenntnisse über Pflanzenphysiologie, Düngung, Erntezeiten und Saatzuchterfolgen die Grenze auf etwa fünf Milliarden Menschen. Darüber sind wir jedoch weit hinaus. Unsere absurde Landwirtschaft versucht durch Effizienzsteigerung die bestehenden Dinge weiter zu optimieren. Es geht aber nicht um Effizienz, sondern um Effektivität, also zu fragen, was ist das Richtige und nicht die bestehenden Dinge richtig zu machen. Wie wäre es, eine gartengebundene Landwirtschaft zu haben, die etwa zehn- bis fünfzehnmal produktiver ist als jede  Monsanto-Gentechnik und einen Ansatz zu verfolgen, der danach fragt, was gesunde Ernährung ist. Bei Algen, Bakterien, Pilzen zum Beispiel ist das Eiweiß in der Tendenz viel gesünder als jedes Rindfleisch. 

Dies bedeutet, alle Dinge noch einmal neu zu erfinden. Alle Produkte, die verschleißen, wie Schuhsolen, Bremsbeläge, Autoreifen, würden so gestaltet, dass sie die Biosphäre unterstützen. Im Augenblick werden Autoreifen nach ihrer Laufleistung optimiert. Der Reifenabrieb wird dadurch jedoch einatemfähig und für unsere menschliche Gesundheit immer problematischer. Alle Dinge, die nur genutzt werden, wie Waschmaschinen und Fernseher, würden so konzipiert, dass sie nur noch technische Dienstleistungen sind. Es gibt also keinen Abfall mehr. Alles wird Nährstoff. 3000-mal Waschen zu verkaufen statt der Waschmaschine selbst, hätte für alle Vorteile, weil dadurch nicht “Langlebigkeit” unterstützt wird, sondern definierte Nutzungszeiten. Man verkauft kein Fenster mehr, sondern 25 Jahre Durchschauen, als Versicherung. Kein Teppichboden, sondern eine Fußbodenverpackungsversicherung. Dieser Teppichboden ist nicht nur nicht giftig, sondern er reinigt die Luft. Er ist nützlich. Warum Passivhäuser? Es gibt auch keine Passivbäume. Sondern Häuser, die Luft und Wasser reinigen, Energie produzieren und alle Lebewesen unterstützen. Inzwischen gibt es viele solcher Cradle to Cradle-Beispiele weltweit.

Das Ziel ist jedoch nicht eine Welt ohne Abfall. Denn wer an Null Abfall denkt, denkt immer noch an Abfall. Zum Beispiel: Denken Sie nicht an ein rosarotes Krokodil. So denken Sie doch unwillkürlich an ein rosarotes Krokodil. Es geht also darum, das Prinzip Abfall abzuschaffen. Das gleiche gilt für das Prinzip Rente. Aber das können wir nur schaffen, wenn wir aufhören, 22 Millionen Menschen, allein in Deutschland, zu Müll zu erklären. Wie wäre es, stattdessen ein völlig neues Lebens- und Arbeitsmodell aufzubauen. Ein Drittel sind wir sozial tätig, denn auch unsere Kinder und Kranken brauchen viel mehr Zeit und Aufmerksamkeit. Ein Drittel sind wir traditionell wirtschaftlich tätig, und ein Drittel sind wir zur Unterstützung der anderen Lebewesen, der Natur und für unsere Ernährung tätig in einer gartengebundenen Landwirtschaft. Dann können alle Menschen einbezogen werden. 

Solange wir gesund sind, werden wir tätig sein. Wenn wir dann tatsächlich krank werden und unser Leben zu Ende geht, wenn wir Unterstützung von anderen brauchen, dann sind bei einem solchen Gesellschaftsmodell genügend Menschen verfügbar und erreichbar uns beizustehen, uns dabei zu helfen. Wir gewinnen damit unsere Würde wieder. So kommen wir dadurch zu einem einfacheren und bescheideneren Lebenstill – nicht, weil es irgendwelche Postkonsum- und Postwachstums-Leute vorschreiben, sondern weil wir uns freuen, wenn es allen gut gehen kann. Wir brauchen eine Gesellschaft, in der sich die Menschen sicher und geschätzt fühlen. Denn dann können wir die Menschen als Chance begreifen.

Über den Autor

Prof. Dr. Michael Braungart hat das Cradle to Cradle-Designkonzept zusammen mit EPEA-Wissenschaftlern entwickelt. Er ist Gründer und wissenschaftlicher Geschäftsführer von EPEA GmbH in Hamburg, der Wiege von Cradle to Cradle, Mitbegründer und wissenschaftlicher Leiter von McDonough Braungart Design Chemistry (MBDC) in Charlottesville, Virginia (USA), sowie Gründer und wissenschaftlicher Leiter des Hamburger Umweltinstituts e.V. (HUI). An der Rotterdam School of Management der Erasmus Universität (RSM) leitet Braungart den Lehrstuhl für “Cradle to Cradle für Innovation und Qualität”. Zudem ist er Professor an der Leuphana Universität Lüneburg, der Universität Twente in Enschede sowie an der TU Delft.

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