Unser Rentensystem stammt aus einer Zeit, in der die Lebenserwartung nur halb so hoch war. Es ist dringend Zeit für eine Reform, findet Cradle-to-Cradle-Experte Michael Braungart.
Von Marina Lordick (06/2016)
Unser Rentensystem stammt aus einer Zeit, in der die Lebenserwartung nur halb so hoch war. Es ist dringend Zeit für eine Reform, findet Cradle-to-Cradle-Experte Michael Braungart.
Von Marina Lordick (06/2016)
Trend Update: Herr Braungart, Sie sprechen vom “Ende der Rente”, wie wir sie heute kennen, und einem neuen Lebens- und Arbeitsmodell nach der Cradle to Cradle-Idee. Wie kann das aussehen?
Michael Braungart: Als die Rente eingeführt wurde, war die Lebenserwartung genau halb so hoch wie heute. Das Rentenalter war ursprünglich mit 70 Jahren vorgesehen. Heute versucht man, dieses Rentenmodell aufrechtzuerhalten, das nur für diejenigen entwickelt wurde, die man nicht totgekriegt hat. Umgerechnet würde das heute einem Renteneintrittsalter von 88,2 Jahren entsprechen.
Im Moment stehen in Deutschland etwa 21,8 Millionen Rentner 27 Millionen Vollzeit-Erwerbstätigen gegenüber. Das ist völlig absurd. Die größte Einzelausgabe im Bundeshaushalt ist mit über 80 Milliarden Euro der Renten-Zuschuss. Das, was man für die Zukunft einsetzen müsste, gibt man für die Vergangenheit aus. Das ist eine völlige Pervertierung des Rentengedankens. Es ist unsinnig, Leute zu Müll zu erklären, nur weil sie ein bestimmtes Lebensalter erreicht haben. Und nach drei Jahren können sie mit diesen Leuten nichts mehr anfangen, sie retardieren komplett. Die können sie dann auf Mallorca entsorgen, wo sie den schönsten Strand und den besten Golfplatz und lauter andere Nutzlosigkeiten erhalten. Das ist doch nicht menschenwürdig. Daher wäre die Idee des neuen Modells, so lange tätig zu sein, wie man gesund ist. Und dabei auch zu einem Drittel sozial tätig zu sein.
Welche Bereiche sehen Sie da konkret?
Alzheimerpatienten brauchen beispielsweise viel mehr Zeit, Zuwendung und Präsenz, als das mit irgendwelchen Pflegeversicherungen geht. Jeder, der an Alzheimer erkrankt ist, braucht mindestens sechs Leute um sich herum, weil das Schlimmste an der Erkrankung die elementare Angst ist, dass die Persönlichkeit nach und nach entschwindet. Auch für unsere Kinder müssen wir als Gesellschaft viel mehr Zeit einplanen. Die Erziehung kann man nicht alleine an die Eltern delegieren. Ein Kind braucht etwa 30 Bezugspersonen um sich herum, damit es nicht missbraucht werden kann, damit es der Duellsituation mit den Eltern nicht schutzlos gegenübersteht. Es braucht neben der Sozial-Zeit aber genauso Zeit für den Umgang mit der Natur. Eine gartengebundene Landwirtschaft kann viel produktiver sein als jede gentechnisch manipulierte Landwirtschaft. Sie ist zwar arbeitsintensiver, aber sie schafft gleichzeitig auch körperlichen Ausgleich und die Möglichkeit einer viel höheren Wertschöpfung.
Es geht also darum, alles neu zu gestalten: ein Drittel soziale Arbeit, ein Drittel Umweltarbeit – also auch Ernährung, Landwirtschaft, Unterstützung anderer Lebewesen – und ein Drittel traditionelle Erwerbsarbeit. Vor 100 Jahren war ein 60-jähriger ein wirklich alter Mann, aber ein heute 60-jähriger hat das biologische Alter eines 40-Jährigen von vor 100 Jahren. Wir reden vom demografischen Wandel – was für ein Blödsinn! Die Gesellschaft war noch nie so jung.
Wenn alle solange tätig sind, wie sie gesund sind, was passiert dann mit denjenigen, die nicht mehr arbeiten können? Wer entscheidet, ab wann man nicht mehr arbeitsfähig ist?
Das entscheidet jeder selbst, in Rücksprache und mit Rat von Medizinern, Gesundheitscoaches und Leuten, die einem dabei helfen, die eigene Persönlichkeit einzuschätzen. Aber man ist einfach tätig, solange man gesund ist und solange man sich auch gesund fühlt. Hier besteht durchaus ein fließender Übergang. Für mich gehört zur Tätigkeit auch soziales Engagement dazu, beispielsweise im Schützenverein oder im Kirchenchor teilzunehmen. Einfach Dinge, die auch kulturell zu den Menschen passen. Wenn man momentan in Rente geht, wird man von der Gesellschaft, von Zeit und Gestaltungsprozessen ausgeschlossen. Die Menschen verlieren durch diese Rentenform ihre Würde. Sie werden im Prinzip zu parasitären Existenzen, und das ist für niemanden wünschenswert.
Wovon leben die Menschen, wenn es keine Rente mehr gibt, wie können sie finanziert werden?
Die Menschen verteilen ihr ganzes Leben lang ihre Tätigkeit auf die verschiedenen Bereiche. Zunächst steht wahrscheinlich die körperliche Erwerbstätigkeit im Vorrang bis man etwa 25, 30 Jahre alt ist. Danach stehen die geistige Erwerbstätigkeit und natürlich soziale Tätigkeiten im Vordergrund, etwa sich um Kinder und Familie zu kümmern, gärtnerische Tätigkeiten, sich um den Erhalt der Artenvielfalt und um andere Lebewesen zu kümmern. All das sind Phasen, die parallel zueinander laufen. Bestimmte Tätigkeiten entwickeln sich kontinuierlich über das ganze Leben.
Wie wird das Altern künftig aussehen, wenn sich das neue Lebens- und Rentenmodell durchsetzt?
Es würde sich so gestalten, dass die Menschen tatsächlich weniger Ansprüche hätten, die nach außen gekehrt werden. Wenn Menschen gemocht und geschätzt werden, sind sie immer großzügig und freundlich. Anders verhält es sich, wenn sie Angst haben, insbesondere die Angst, etwas zu verpassen. Rentner haben hauptsächlich deshalb keine Zeit, weil sie immer auf der Hetze sind, etwas zu verpassen. Wenn sie dazugehören, dann sind sie großzügig und freundlich, und dann schafft das einen Zusammenhalt in der Gesellschaft. Dann ist das Alter tatsächlich etwas, das dazugehört. Ich habe mir ganz viele Naturvölker angeschaut und da gibt es keine echte Angst der Menschen vor dem Tod. Es gibt die Angst vor dem Sterben, weil das einfach oft mit Schmerzen und vielen anderen negativen Dingen verbunden ist.
Die eigentliche Ur-Angst ist nicht die vor dem Tod, sondern die, etwas zu verpassen, wenn man stirbt. Ich kenne genügend Leute, die ständig gehetzt sind, weil sie mit jedem Bild, dass sie im Fernsehen sehen, denken “Ach, das habe ich noch nicht mitbekommen, das fehlt mir noch”. Die Gesellschaft wird meiner Wahrnehmung und vielen anderen Beobachtungen nach latent unglücklicher, weil die vielen Bildeindrücke sie überfordern und bei den Menschen die Angst verstärken, etwas zu verpassen. Das gilt auch für Leute, die über 90 Jahre alt sind und nicht loslassen können, unbedingt noch dieses und jenes erreichen müssen, weil sie meinen, sonst ihr Leben verpasst zu haben. Das macht sie dann immer unglücklicher.
Werden wir freiwillig auf unseren “wohlverdienten Ruhestand” verzichten? Wie lassen sich Menschen vom neuen Modell überzeugen?
Wenn man dazugehört, wenn man gebraucht wird, ist man wesentlich zufriedener, als wenn man sich abgeschoben fühlt. Deshalb muss man ja auch finanziell entschädigt werden. Man kann Menschen allerdings sowohl mit Geld als auch mit Anerkennung bezahlen. Und wenn man sie nicht mit Anerkennung bezahlt, wenn man den Menschen-Müll auf Mallorca entsorgt, dann müssen sich die Abgeschobenen in der Konsequenz feindselig und raffgierig verhalten. Und das macht in der Tendenz unzufriedener, man wird zum Wutbürger, weil man ausgeschlossen wird. Wenn sie jemanden drei Tage lang in eine Ecke stellen, dann ist er danach verhaltensgestört, egal wie normal der Mensch vorher war.
Wird sich das Verständnis von und innerhalb einer Gesellschaft durch das neue Lebens- und Arbeitsmodell verändern?
Man muss einsehen, dass die Menschen damit überfordert sind, Individuen zu sein. Es ist ein enormer Stress, permanent besonders sein zu wollen. Der erste Schritt in Richtung Zufriedenheit der Menschen wäre es, die Mittelmäßigkeit wirklich zu akzeptieren und zu sagen: “Ich muss nicht überall gut sein!” Ich kann mir die Bereiche raussuchen, die ich wirklich gerne mache und in denen werde ich dann auch tatsächlich gut, weil ich mich dort mit Leidenschaft betätige. Wenn ich in allem gut sein möchte, dann ende ich mit 100 Prozent Mittelmäßigkeit. Wenn ich 90 Prozent Mittelmäßigkeit aktiv anstrebe, dann kann ich für die restlichen 10 Prozent besonders sein. Jemand, der wunderbar Klavier spielen kann, ist eben nicht unbedingt gut im Fahrradfahren oder Mathematik. Wir enden dann mit 100 Prozent Mittelmäßigkeit und einer Gesellschaft, die mit sich immer unzufriedener wird.
Gerade bei Frauen bestehen bestimmte Rollenerwartungen und Leistungserwartungen, die sie gar nicht erfüllen können. Umso leichter gestresst, überfordert und unzufriedener werden sie, weil sie all diesen Ansprüchen nicht entgegenkommen können. Das Wichtigste ist, zu verstehen: Es gibt nicht nur individuelle Menschenrechte, sondern auch kollektive. Das Kollektiv ist für die Menschen letztlich genauso wichtig wie das Individuum. Eine stärkere Betonung kollektiver Menschenrechte entlastet von diesem individuellen Zwang, besonders toll sein zu müssen – der führt zur Überforderung mit sich selber und mit sozialen Beziehungen.
Noch einmal zurück zum Cradle to Cradle-Prinzip: Wie kann es ein Lösungsansatz für die Herausforderungen des demografischen Wandels sein?
Meiner Meinung nach gibt es gar keinen demografischen Wandel. Es ändert sich nur die Zusammensetzung der Alterspyramide, nicht die Zusammensetzung der Vitalitäts- und Gesundheitspyramide. Cradle to Cradle ist ein Kulturkonzept, das die Menschen als Chance begreift. Traditionell betrachten wir Menschen eher als Schädlinge, was auch religiös bedingt ist. Wenn uns die Religion sagt, die Menschheit ist ohnehin schlecht und nur der liebe Gott kann sie erlösen, dann kann man nur „weniger schlecht“ sein. Das Höchste ist sozusagen Null, weshalb die Leute auch klimaneutral sein möchten. Haben sie schon einmal einen Baum gesehenen, der klimaneutral ist? Wer klimaneutral sein will, will dümmer sein als Bäume. Ein Baum ist immer nützlich und nicht „weniger schädlich“. Komplett klimaneutral kann man nur sein, wenn man nicht existiert.
Wir müssen die Menschen als Chance begreifen, und genau das tut das Cradle to Cradle-Prinzip: Es geht nicht darum, den menschlichen Fußabdruck zu minimieren, sondern ihn zu feiern und in ein lebendiges Biotop zu verwandeln. Dann verstehen sich Menschen in jedem Lebensalter auch selbst als Chance für den Planeten und als Chance füreinander, dann wird es eine viel freundlichere Gesellschaft geben. Wenn wir Menschen ihre Existenz absprechen – auch, indem wir sie in Rente schicken und so entsorgen wollen – dann werden sie raffgierig und feindselig. Wenn sie aber ein Teil der Gesellschaft sind und bleiben, dann sind sie großzügig und freundlich, wie alle Menschen in allen Kulturen.
Prof. Dr. Michael Braungart hat das Cradle to Cradle-Designkonzept zusammen mit EPEA-Wissenschaftlern entwickelt. Er ist Gründer und wissenschaftlicher Geschäftsführer von EPEA GmbH in Hamburg, der Wiege von Cradle to Cradle, Mitbegründer und wissenschaftlicher Leiter von McDonough Braungart Design Chemistry (MBDC) in Charlottesville, Virginia (USA), sowie Gründer und wissenschaftlicher Leiter des Hamburger Umweltinstituts e.V. (HUI). An der Rotterdam School of Management der Erasmus Universität (RSM) leitet Braungart den Lehrstuhl für “Cradle to Cradle für Innovation und Qualität”. Zudem ist er Professor an der Leuphana Universität Lüneburg, der Universität Twente in Enschede sowie an der TU Delft.