Warum der demografische Wandel keine Katastrophe ist, sondern der eigentliche Schlüssel zu einer innovativen und attraktiven Gesellschaft.
Von Dr. Daniel Dettling (06/2016)
Warum der demografische Wandel keine Katastrophe ist, sondern der eigentliche Schlüssel zu einer innovativen und attraktiven Gesellschaft.
Von Dr. Daniel Dettling (06/2016)
"In the long run we are all dead."
(John Maynard Keynes)
Befindet sich Deutschland auf dem Weg in eine Rentner-Republik? Politik und Medien zeichnen die Zukunft in düsteren Bildern und werfen ein Horrorszenario an die Wand: eine Gesellschaft verarmter und vereinsamter Rentner. Aber Altersarmut ist ein politischer Mythos. Der heutigen Rentnergeneration geht es materiell so gut wie keiner vor und wohl auch keiner mehr nach ihr. Und die Alten von morgen werden fast eine Generation länger jung bleiben als ihre Eltern.
Mit jedem Tag erhöht sich unsere Lebenserwartung um vier bis fünf Stunden. Alle zehn Jahre gewinnen wir also zweieinhalb Lebensjahre dazu. Jedes zweite heute geborene Baby wird 100 Jahre alt. Das hat Folgen für das Verhältnis von Lebens- und Arbeitszeit. Betrug die Lebenszeit vor gut einem Jahrhundert im Schnitt 440.000 Stunden und die Arbeitszeit durchschnittlich 150.000 Stunden, sind es heute bei 690.000 Stunden Lebenszeit nur noch 45.000 Stunden Arbeitszeit. Doch was fangen wir mit den gewonnenen Lebensjahren an? Bislang profitieren allein die Älteren vom längeren Leben. Die Phase ab 60 wird immer länger und die Zeit davor immer dichter und stressiger.
Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sind heute auf die erste Lebenshälfte fixiert. Wie im Leistungssport, in dem kaum ein Profi über vierzig Jahre alt ist. Nur die Trainer sind älter. Was aber, wenn wir mehr Trainer als Spieler haben? Alterung wird bislang mit Siechtum, Verfall und Kontrollverlust gleichgesetzt. In Wirklichkeit aber ist der demografische Wandel ein Prozess der Verjüngung.
75-Jährige fühlen sich heute zehn Jahre „jünger“. Nach dem HALE-Index („Health Adjusted Live“) werden in den Industrieländern von fünf gewonnenen Jahren im Alter drei Jahre in Gesundheit erlebt. So verbringen dreiundneunzig Prozent der Männer in Deutschland ihr Leben in Gesundheit. Bei den Frauen sind es aufgrund der höheren Lebenserwartung „nur“ einundneunzig Prozent. Sie alle mit dem Erreichen einer fixen Altersgrenze auszumustern, ist ökonomisch wie sozial ein Riesenfehler. Altern wird immer individueller. Eine bestimmte Art der Intelligenz, die „kristalline Intelligenz“, wächst erst mit dem Alter. Ältere sind erwiesenermaßen glücklicher als jüngere. Und: Mit steigenden Jahren nimmt für eine große Mehrheit der Älteren die Lebensqualität zu. Wo mehr Ältere sozial aktiv sind und im mittleren Alter gesünder leben, geht das Risiko, im Alter an schweren Krankheiten zu leiden, zurück.
Warum betrachten wir die Alterungsgesellschaft also nicht als Möglichkeitsraum einer neuen Zeit- und Lebenspolitik? Warum entindustrialisieren wir die Arbeitswelt nicht, machen sie weniger monoton und stattdessen flexibler – und lassen so das Erfahrungswissen der Älteren zu? Warum schaffen wir die Altersgrenze hin zur Rentenzeit nicht ab, statt sie – je nach politischer Konstellation – mal anzuheben oder zu verkürzen? Das Thema wäre dann eine „neue Lebenslaufpolitik“ wie sie auch Bundespräsident Joachim Gauck vor einem Jahr gefordert hat. In einer zunehmend selbstbestimmten Gesellschaft verfügen die Menschen nicht erst nach, sondern mitten im klassischen Erwerbsleben über mehr Zeitsouveränität. In der stressigen Phase des Lebens zwischen dreißig und fünfzig Jahren, in der es um Familiengründung und beruflichen Aufstieg, geht, braucht es immer wieder eine Entzerrung der Lebensphasen.
Altwerden fängt mit der Jugend an. Unsere Biografiekompetenz entscheidet darüber, ob und wie wir erfolgreich altern. Gemeint ist die Fähigkeit, mit Risiken aktiv umzugehen und uns im Laufe des Lebens bewusst zu verändern und anzupassen. Immer weniger Menschen können mit der Idee, dass mit der möglichst frühen Rente das eigentliche Leben beginnt, etwas anfangen.
Ironischerweise sind es die nun in die Jahre kommenden Babyboomer, die sich an der Jugend und ihren Attributen orientieren, um dem Alter zu entkommen. Die Babyboomer waren es, die das Alter erst problematisiert und es mit Marketing-Begriffen wie "Anti-Aging" den Kampf angesagt haben. Die eigentliche Kraft der zweiten Lebenshälfte kommt nicht daher, dass man sich mit 60 noch ein Skateboard kauft. Es ist die Überwindung der Illusion der ewigen Jugend, die zur Freiheit in Bezug auf sich selbst und zur Welt führt. Der kreative Imperativ der Zukunft ist nicht "Anti-", sondern "Pro-Aging". Denn vor uns liegt eine Gesellschaft, die in ihrer Mehrheit aus über 50-Jährigen besteht, von denen immer mehr hundert Jahre und älter werden.
Eine älter werdende Gesellschaft, die ihre Alten gettoisiert und ausgrenzt, hat keine Zukunft. Der demografische Wandel, als Katastrophe beschimpft, ist der eigentliche Schlüssel zu einer innovativen und attraktiven Gesellschaft. Europa und Deutschland kommt dabei durch das hohe Alter seiner Bevölkerung eine Verantwortung zu, die als einmalige Chance zu sehen ist. Eine immer komplexer werdende Gesellschaft und Wirtschaft wird auf die Erfahrung der Alten mehr denn je angewiesen sein.
Die heute und künftig Älteren stehen dabei vor der Frage, wie sie die dreißig "Extra-Jahre", die sie im Vergleich zum Anfang des vorigen Jahrhunderts besitzen, gestalten und finanzieren. Und die Jüngeren müssen sich mit der Frage auseinandersetzen, wie sie ein Leben managen, das nicht mehr den linearen biografischen Mustern ihrer Eltern folgt. Beide, Ältere wie Jüngere, werden eine andere Art von Unterstützung und Beratung nachfragen, als sie derzeit die gesetzliche Rentenversicherung und die privaten Versicherungs- und Finanzinstitute anbieten. Die neuen Freiheiten gehen einher mit anderen Risiken. Der Ruhestand wird abgeschafft. Die politische Revolution fällt aus. Wir stehen am Beginn einer demografischen Evolution.