Städte entdecken ihre produktive Seite wieder: Urban Farming und Urban Manufacturing bringen Produktionsketten zurück in die Stadt – mit ungeahnten Möglichkeiten.
Von Simon Henkel (09/2015)
Städte entdecken ihre produktive Seite wieder: Urban Farming und Urban Manufacturing bringen Produktionsketten zurück in die Stadt – mit ungeahnten Möglichkeiten.
Von Simon Henkel (09/2015)
Lange Zeit schien es, als ob der Wandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft jeden Winkel unserer Arbeitswelt in Besitz nehmen würde. An keinem anderen Ort manifestiert sich diese Entwicklung deutlicher als im urbanen Raum. Ganze Produktionsketten sind in entfernte Länder outgesourcet. Städte fungieren dabei nur noch als Schaltzentralen in einem komplizierten Prozess der Arbeitsteilung. Doch wachsender Zweifel an der sozialen Gerechtigkeit, der Wunsch nach guter Qualität und Sicherheit sowie das gesteigerte ökologische Bewusstsein sind zu Treibern eines neuen Trends geworden: The New Local. Beim Urban Farming und Urban Manufacturing wird die Produktion von Gütern re-regionalisiert – als Gegenentwurf zu unserem globalisierten und wachstumsbasierten Wirtschaftssystem.
Während das Bio-Siegel lange Zeit für einen Großteil der Kunde als das ausschlaggebende Kriterium beim Obst- oder Gemüseeinkauf galt, wird es mehr und mehr durch das Kriterium der Regionalität ergänzt. Deutschland weist eine Urbanisierungsrate von 74 Prozent auf. Immer häufiger bedeutet “regional” daher “in der Stadt”. Man möchte meinen, dass Städtern der Wunsch nach Lebensmitteln aus unmittelbarer Nähe verwehrt bleibt, Anbauflächen existieren in unserer Vorstellung allein auf dem Land. Doch tatsächlich tragen die Städte inzwischen zunehmend zur Lebensmittelproduktion bei.Im Gegensatz zu Urban Gardening, bei dem Hobby-Gärtner ihren grünen Daumen unter Beweis stellen können, steht Urban Farming für den ernsthaften Versuch, den Eigenbedarf an Lebensmitteln der jeweiligen Umgebung decken zu können. Was wie eine Utopie anmutet, wird vielerorts schon Wirklichkeit. So auch auf der ECF Farm Berlin. Dort werden Fischzucht und Gemüseanbau miteinander kombiniert: Speisefische reichern das Wasser mit Nährstoffen an, welches anschließend zu den Pflanzen geleitet wird und diese Dank des natürlichen Düngers prächtig gedeihen lässt. Kreislaufmodelle wie dieses sind im urbanen Raum besonders wertvoll, weil die ohnehin knappen natürlichen Ressourcen auf diese Weise effizient genutzt werden können. Die Tatsache, dass die Erzeugnisse tagesfrisch und ohne lange Transportwege an den Kunden gelangen, macht dieses Konzept für Konsumenten so interessant.
Nicht nur lichtdurchflutete Gewächshäuser bieten sich für Urban Farming an, sondern auch dunkle Keller oder ehemalige Industriehallen blühen dank neuester LED-Technologie auf. Das Berliner Startup Infarm macht sich diese Technologie zunutze und kann, nach den ersten abenteuerlich anmutenden Versuchen, Erfolge verzeichnen. Ihre innovativen Konzepte lassen frisches Gemüse in zahlreichen werbewirksamen Projekten gedeihen.
Neben dem Urban Farming trägt auch Urban Manufacturing zu einer Re-Regionalisierung der Produktion bei. Von Lifestyle-Objekten über Bekleidung bis hin zu Möbeln – Manufakturen in der Stadt stehen für hochwertige, design-orientierte Produkte. Und nicht zuletzt für Eigenschaften, die für den Endkonsumenten von besonderer, oft persönlicher Bedeutung sind: Individualität, Authentizität und außergewöhnliche Wertigkeit.
Ein Produkt, das diese Kriterien für viele Städter erfüllen muss, ist das Fahrrad. Diente es früher vor allem als Fortbewegungsmittel, ist es heute Statussymbol, High-Tech-Gerät und Ausdruck des eigenen Lifestyles. Individuelle, einmalige Räder, die sich von der Massenproduktion abheben, sind gefragt wie nie zuvor. Eine Manufaktur, die sich auf diesen Markt spezialisiert hat, ist nemus cycles. Bemerkenswert ist nicht nur, dass die Räder in Dresden anstatt, wie sonst in der Branche üblich, in Taiwan gefertigt werden. Auch das preisgekrönte Design und der innovative Werkstoff – die Rahmen werden aus heimischen Hölzern gefertigt – richtet sich an eine umwelt- und stilbewusste Zielgruppe.
Urban Farming und Urban Manufacturing stehen für qualitativ hochwertige Produkte, die von kleinen Unternehmen in geringer Stückzahl produziert werden. Die einzelnen Businessmodelle sind dabei nicht auf Wachstum ausgelegt, sondern bedienen vielmehr kleine, exklusive Nischen. Antrieb für diese Entwicklung ist neben dem steigendem Bewusstsein für nachhaltiges Wirtschaften auch der Megatrend Individualisierung, der mit einer zunehmenden Ausdifferenzierung der Märkte einhergeht. Großes Potenzial also für urbane Marktnischen – die so divers sind wie die Städter selbst.