Werden wir automatisch Autofahren?

In dieser Zukunftstechnologie ist vieles nicht, wie es scheint…

Horx Archiv

Kurzantwort: Ja, Autos werden automatisch/autonom fahren. Aber viel später und GANZ ANDERS als heute vermutet!

1. Eine der klassischen Irrtümer über die Zukunft ist, dass wir  einfach immer geradeaus in sie hineinfahren. Wir müssen uns nur entlang jener Linie bewegen, die durch Technologie linear vor-geschrieben ist.   Und erreichen auf diesem Weg das MORGEN. 

Zum Beispiel beim Automobil. Heute entwickeln sich die Technologien des AUTONOMEN FAHRENS rasend schnell. Aufgerüstete Oberklassewagen fragen auf der Autobahn nur noch hin und wieder nach der Hand des Fahrers. In Berlin, vor allem aber in Kalifornien, sind autonome Autos bereits auf den Strassen unterwegs - wenn auch mit einem stets eingriffbereiten Fahrer. 

Es ist also nur noch eine Frage der Zeit, bis “wir alle” automatisch Autofahren. So muss es sein! Oder?

2. Im ikonographischen Zukunfts-Film MINORITY REPORT wird der Held (gespielt von Tom Cruise) beim Einsteigen in ein automatisches Auto gezeigt. Kaum sitzt er in den bequemen Polstern, und die schmeichelnde Frauenstimme fragt ihn nach dem Fahrtzeit, steigt er schon wieder aus. So wie Männer das so machen: er tritt einfach das Glasdach kaputt. Und hängt plötzlich am rasenden Fahrzeug, dass senkrecht an einer Hochhauswand entlangrast.

MINORITY REPORT entstand in der kurzen futuristischen Euphorie der Jahrtausendwende und handelt von einer dystopischen Vision, in der die Welt durch Kontrolle und “disziplinierende Voraussicht” totalitär geworden ist. Die Technologien, die im Film gezeigt werden, wurden von Zukunftsforschern ausgedacht. Das automatische Autofahrsystem, das dort gezeigt wird, erzeugt einen nahtlos fliessenden Verkehr, in dem die Fahrer einsam in ihren rasenden “Modulen” sitzen. All diese Autos sind gleich, sie unterscheiden sich nur in der Farbe. Alle fahren in derselben Geschwindigkeit, Niemand überholt. Hier wird deutlich, wie ein automatisches Autofahr-System die Fahrer in PASSAGIERE verwendelt.

Die meisten Männer steigen da lieber aus.

 

3. Wer das Automobil als reines Fortbewegungsmittel versteht, versteht nichts von Menschen. Autos haben, neben ihrer Transportfunktion andere “Aufgaben”, die mindestes so wichtig sind wie der Transport von A nach B.

Macht und Kontrolle: Die Freisetzung und Kontrolle großer Kräfte (“Pferdestärken”) gibt dem Automobil einen tiefen Dominanz-Faktor: Im Auto “bewältigen” wir unsere Umwelt, in dem wir uns der Illusion hingeben, “alles im Griff” zu haben. Autofahren setzt im Hirn der meisten Fahrer (besonders bei  hormonstarken Männern) DOPAMIN frei. Das euphorische Gefühl beim Beschleunigen und Überholen ist nichts anderes als ein uralter, archaischer Jagd-Instinkt, übersetzt auf Technologie: WIR ERLEGEN DAS WILD!

Status: Durch das Auto realisieren vor allem Männer ihren sozialen Status. Autos sind die Zeigerpflanzen einer Schichtengesellschaft. Besonders in Deutschland sind Marken, PS-Zahl, Ausstattung unmittelbar gebunden an den Karriereweg des “Organisation Man”; 60 Prozent aller oberen Mittelklassewagen werden als “Dienstwagen” zugelassen. 

Sex: Im Röhren, dem Betonen der “Auspüffe”, dem Motor-Brüllen beim Überholen finden sich genuine archaische Potenz-und Lockverhaltensmuster wieder, mit denen Männer Frauen beeindrucken wollen.

Jagdinstinkt: Die eigentliche Narration des Autofahrens  handelt von ZÄHMUNG. Deshalb ist die Tatsache, dass immer mehr Menschen völlig übermotorisierte Autios kaufen, so unabweisbar: Es GEHT ja gerade um diesen “unsinnigen” Kraftüberschuss. Im männlichen Jäger-Hirn erzeugt der riesige Motor das Gefühl, ein Mammut zu besiegen. Deshalb ist in der Autojournalistenprosa unentwegt von RÖHRENDEN AUSPUFF und der “unbändigen Energie des Motors” die Rede; In Wirklichkeit handelt es sich um Hirsche oder Bären.

Cocooning: Das Auto ist der letzte Ort, an dem eine selbstbezogene Intimität zelebriert werden kann. Neue Autos riechen gut, sie bieten jedweden Komfort für die Sinne, Rundum-Musik und Temperaturkontrolle. Der Grund, warum viele Menschen (auch hier vorwiegend Männer)  immer noch hunderte oder gar tausende von Kilometer  am Stück fahren, ist jene einhüllende Trance, in der das Auto zu einem fahrenden Uterus wird. Wir müssen nichts tun. Wir müssen nicht einmal denken. Wir müssen nur GLEITEN und KONTROLLIEREN. Eine neuronale Komfort-Situation ohnegleichen!

Wagen wir einen politisch völlig unkorrekten Vergleich: Das Auto in Zukunft nur noch automatisch fahren zu lassen, wäre so, als würde ab morgen nur noch Frauenfußball als Fußball zugelassen.

Aber auch dieser Vergleich hinkt. Besser: Als würde Fußball durch Flötenspielen ersetzt.

4. Im offiziellen Film über das GOOGLE Car - “A First Drive” -  lassen sich bemerkenswerte Kommentare und Dialoge einfangen. Ein niedliches, kleines Plüschtier-Auto mit zwei Kulleraugen fährt von der Rampe eine Lastwagens. “Wie SÜÜSS!!!””, ruft  das ältere Ehepaar. Und auch das lesbische Paar und die alleinerziehende Mutter mit Kind, das zum Probefahren eingeladen wurde, sind begeistert.

Das Google-Car ist ein Anti-Auto. Es ist das genaue Gegenteil eines chromblitzenden Boliden, eines Testesteron-Kontrollgeräts: Es wirkt wie ein Plüschtier, scheint zu zwinkern, und besteht aus wenig mehr als aus zwei gepolsterten Sitzen und halbrunden Fenstern. Keine Amaturen, kein Steuerrad, keine Hebel.  Kein Auto.

Es ist ein POD - eine “Fahrkapsel” oder KABINE!

Google hat dieses Auto-Mobil (das tatsächlich diesen Namen  verdient), absichtlich so konstruiert.  Die Firma setzt auf eine völlig neue Ära des lokalen Transports. In dieser Ära, so Google, werden vor allem JENE Menschen Autofahren, die das bislang NICHT oder NICHT GERNE tun. Die Alten. Die Behinderten. Die Auto-Unwilligen. Die Nichtautofahrer. UND DAS SIND VIEL MEHR, ALS MAN DENKT. 

Das ältere Ehepaar diskutiert nach der Testfahrt über Fahrstile: “Meine Frau hat mir immer versucht, beizubringen, dass man vor einer Kurven bremsen muss. Ich konnte das nie. Nun, dieses kleine Auto tut es für mich!”

Und das lesbische Paar sagt: “Grossartig. Man muss sich um nichts kümmern!”

Und die alleinerziehende Mutter sagt: “Ein solches Auto würde mir SO viel Zeit FÜR MICH SELBST zurückgeben!”

Amerikaner verbringen noch viel, viel mehr Zeit im Auto als Europäer. Aber was IST Zeit im Auto? Aus der Sicht des ACHTSAMEN Lebens  ist Autofahren verschwendete Zeit, in der wir nichts tun können außer zu STARREN und AMATUREN ZU BEDIENEN. Etwa die Hälfte aller Menschen findet Autofahren nicht sehr attraktiv. Diese Menschen würden in einer automatischen Fahrwelt mit “PODS” sehr glücklich.

Der Rest allerdings, die 50 Prozent Gerne- oder gar BEGEISTERT-Autofahrer, würden womöglich sofort AUSSTeigen! Oder einen luxuriösen Zug benutzen. Denn das, was ihnen am Autofahren (auf einer tiefen neurologischen Ebene) SPASS machte, ist nun einfach abgeschafft.

Automatische Autofahl-Systeme erzeugen  eine Drift in Richtung auf Systeme, die heute schon vorhanden sind - Zug-Systeme. Und damit bringen sie das Auto plötzlich in einen neuen Konkurrenz-Kontext.

5. Im Kern der Idee des automatischen Autofahrens liegt ein Kategorienfehler: Wir verwechseln die BEZÜGE des Wortes “Auto”. Das heutige Auto, das Selbstfahr-Auto, ist für Menschen ein Symbol für AUTONOMIE - im Sinn von Kontrolle. Ein TEIL des Autofahl-Erlebens besteht eben auch in Risikoerfahrung und die Grenzüberschreitung. Das autonome Mobil muss deshalb als KOMPETENZVERLUST erscheinen - außer von denjenigen, die sich nie zuvor auf den “Autonomismus” des Autofahrens eingelassen haben.

Autonome Autos erzeugen eine KOMPETENZVERLUST-ERFAHRUNG!

Das gilt auch und gerade für die Gefahrenmomente. ZU SCHNELL FAHREN KÖNNEN definiert uns als entscheidungsfähige, “autonome” Menschen, die auch Regeln überschreiten können/dürfen. Die Existenz von Unfällen weist auf GEFAHREN hin. Menschliche Hirne lieben Gefahren, wenn sie sie kontrollieren können (real oder imaginiert). 

Ein automatisches Autofahrsystem wirkt disruptiv besonders auf diesen symbolischen Kern unserer Auto-Symbiosis. Es würde uns, ist es einmal realisiert, eine ANDERE Autonomie verleihen. Nämlich die vom ZEITAUFWAND des Autofahres. Aber wollen “wir” diese Autonomie  wirklich haben ? Der Wegfall der seltsamen Zwischen-Zeitzone, die wir “Autofahren” nennen, dieses NEXUS zwischen den Tätigkeiten, würde im Kontext unserer erlernten Zeit-Kultur  grosse Probleme bereiten. Autofahrzeit würde plötzlich  Arbeitszeit! Oder, noch schlimmer, FREIZEIT!

Die zentrale Frage wird sein: Was TUN wir im Auto, wenn es automatisch fährt? Illustrationen aus den 60er Jahren geben die klare Antwort: Familienleben. Die Familie spielt gemeinsam Karten. Aber heute fahren Familien selten zusammen Auto. In einer heutigen Illustration haben alle Mitfahrer, sich gegenseitig zuwandt, Cyber-Brillen an. Automatisches Autofahren zu MEHREREN erzeugt einen kommunikativen Zwangs-Raum, aus dem man, anders als im Zugabteil, nicht mal eben entkommen kann. Bizarr Autistische Verhaltensformen sind die Konsequenz, wenn es keinen” Beifahrer” und keinen “Rücksitzer” mehr gibt. Vielleicht werden autonome Autos die Wohnmobile beziehungsgestörter Singles.

Und by the way: Wo sind die Toiletten? Hat ein fahrendes Auto eine Küche? Eine Kaffeemaschine?

Das sind die eigentlich spannenden Fragen. Für die sich Auto-Ingenieure aber eher marginal interessieren. 

6. Und doch wird es kommen, das automatische Autofahren.

Allein schon deshalb, weil es INTERESSEN gibt. Starke Lobbys. Wirtschaftsverbände. Pressure Groups. Das autonome Autofahren ist längst eine gesellschaftliche Erzählung, eine future narration - und als solche formt sie die Zukunft selbst. 

Vor allem die Software-Firmen sind eine starke Lobby - es geht auch um einen Machtkampf zwischen Autobranche und Softwarebranche. Mercedes hat diesen Zwang erkannt und versucht, sich selbst an die vorderste Front zu setzen. Der Virus hat gewissermaßen den Wirt infiziert uns sich direkt in den Mercedes-Code hineingepflanzt. Gleichzeitig versucht Mercedes, das selbstfahrende Auto als “stürmenden Automaten” umzudefinieren - und damit den alten dominant-maskulinen Autofahrer-Typus zu behalten. “Ein Auto, dass alles aus dem Weg räumt, und immer sicher bleibt …”

Diese Phantasie muss scheitern. Denn beides geht nicht: Im autonomen Fahrsystem ist UNTERORDNUNG und VORSICHT das Prinzip. Nicht Beschleunigung und Dominanz. Scheitern muss auch die Idee einer PARALLELWELT, wo jeder auf seine Fasson selig werden kann: Die einen fahren mit Steuer, die anderen nicht. Ein einziger regelverletztender Autofahrer OHNE Auto-Automatik kann einen ganzen Pulk automatischer Autos zum Stillstand bringen. Einfach indem er etwas UNERWARTETES tut. 

Die autonome Automobilität wird kommen. Es wird aber länger dauern als gedacht. Tief sitzende kulturelle Gewohnheiten lassen sich nicht über Nach umkrempeln. Es wird zunächst Insel-Lösungen geben, Enklaven des Auto-Automobilität in einigen Städten oder Stadtteilen. Viel Geld wird verbrannt werden. Viele Wertschöpfungsmodelle werden den Bach heruntergehen. Am Ende werden wir DAHINGLEITEN, in einsamen oder geselligen Kapseln. Im Verbund auf den dann eigentlich leeren Autobahnen. Und alles wird sich irgendwie nach Zugfahren anfühlen. 

In den Freizeitparks kann man dann - mit stinkendem Benzin - sinnlos herumrasen, dass es eine Freude ist. Jurassic Park 2.0. 

Der Artikel hat Bezug zu folgenden Formaten:

Dieser Artikel ist in folgenden Dossiers erschienen:

Megatrend Mobilität

Megatrend Mobilität

Der Megatrend Mobilität beschreibt die Entstehung einer mobilen Weltkultur, Veränderungen durch neue Produkte und Services sowie die künftige Nutzung von Verkehrsmitteln.

Folgende Menschen haben mit dem Thema dieses Artikels zu tun:

Matthias Horx

Matthias Horx ist der einflussreichste Trend- und Zukunftsforscher im D-A-CH-Raum und Experte für langfristige Entwicklungen in Gesellschaft und Wirtschaft.