Wohnen nach Corona: Aufbruch in die Hyperlokalität

Die Coronakrise stellt viele der Wohn-, Lebens- und Stadttrends, die wir in den vergangenen Jahren kennengelernt haben, auf den Prüfstand. Nach der Krise geht es um mehr als heimelige Trends wie Cocooning oder Hygge. Wir werden uns in Zukunft nicht nur stärker auf jene Menschen konzentrieren, zu denen wir eine wirkliche und gute Beziehung haben, sondern auch die Dinge in unserem direkten Umfeld mehr respektieren und wertschätzen.

Von Oona Horx-Strathern

Illustration: Julian Horx

Co-Living nach Corona: Die Isolation kreiert Communitys

In der Coronakrise fühlten wir uns zusammengehörig, gerade weil wir getrennt wurden – so wie das Essen wieder zum Genuss wird, wenn wir fasten. Jeder Mensch hat so wieder die Bedeutung menschlicher Verbindungen erfahren, manchmal auf sehr schmerzliche Weise. Aber wird sich diese Entwicklung auch nach der Krise fortsetzen? Dafür spricht schon die Tatsache, dass soziale Solidarität hartnäckig ist. Die Krise lehrt uns, wie sehr wir ein aktives Engagement füreinander und für das Gemeinwohl brauchen, sowohl im privaten Umfeld als auch im öffentlichen Leben.

Dies wird auch Wer die Zeit des Social Distancing allein in einer Wohnung verbringen musste, denkt neu über gemeinsames Wohnen nach. dem Trend zum Co-Living eine ganz neue Sinnhaftigkeit verleihen. Wer die Zeit des Social Distancing allein in einer Wohnung verbringen musste, denkt neu über gemeinsames Wohnen nach. Das Bedürfnis nach Gemeinschaft und einem geteilten Alltag wird auch nach der Krise andauern und wachsen – so wie die positiven Gefühle einer gemeinsam gekochten und geteilten Mahlzeit noch lange nach dem Abwasch bestehen bleiben.

Mehr als Cocooning

Tatsächlich schafft die Coronakrise eine ganz andere Beziehung zur Privatsphäre. Dabei geht es um mehr als heimelige Trends wie Cocooning oder Hygge. Es geht um die grundsätzliche Frage: Wie fühle ich mich wohl und sicher? Diese Frage hat nicht zuletzt diejenigen Menschen zum Überdenken und Handeln gebracht, die dies in der Zeit des Shutdowns nicht in ihrem aktuellen Zuhause finden konnten.

Für alle, die während der Coronakrise aus dem Büro ins Homeoffice katapultiert wurden, stellte sich die Frage: Wie kann ich bequem und konzentriert arbeiten? Das Virus hat den Menschen klar gemacht, dass sie mehr Ruhe, mehr Privatsphäre brauchen, um sich zurückziehen zu können. Flexibilität und Multifunktionalität funktionierten nur bedingt. Nach der Krise werden wir uns wieder ein Stück weit an eine stärkere räumliche Trennung von Arbeitsplatz und Freizeitraum gewöhnen – auch innerhalb der eigenen vier Wände.

Die 15-Minuten-Stadt: Die Rekonfiguration der Radien

Stadtbewohnerinnen und -bewohner lernten während der Coronakrise, ihre direkte Umgebung auf eine völlig neue Weise zu sehen und erleben – sei es die Farbe der Ziegel- steine eines Gebäudes, das Geräusch der Vögel, die zu den Bäumen zurückkehren, oder die Klarheit der Luft. Ohne Ablenkung nehmen Menschen sich mehr Zeit, die Dinge wahrzunehmen. Nach der Krise werden wir deshalb auch unsere Städte zurückfordern.

Viele Menschen, die sich lange Zeit unverbunden und getrennt von ihrer Nachbarschaft fühlten, entdeckten in der Krise die Freude, Bequemlichkeit und Schönheit des Lokalen wieder. Überrascht stellten sie fest, dass sie ihre „Komfortzone“ gar nicht verlassen mussten, um an wesentliche Bedürfnisse und Güter zu gelangen. Die Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, will die Metropole nun zu einer „15-Minuten-Stadt“ umwandeln, sodass Bürgerinnen und Bürger alle wesentlichen Bedürfnisse – von Wohnen und Arbeiten bis zu Bildung und Freizeit – innerhalb von 15 Minuten mit dem Fahrrad oder zu Fuß von der eigenen Haustür aus erfüllen können. Verschiedene Städte zeigten bereits vor der Coronakrise Interesse daran, diese Idee der „Hypernähe“ praktisch umzusetzen:

  • Barcelona hat mit den sogenannten Superblocks nicht nur autofreie Mehrblockzonen geschaffen, sondern ermutigt die Bewohnerinnen und Bewohner zudem, ihr tägliches soziales Leben zu intensivieren.
  • Die Londoner InitiativeEvery One Every Day“ fördert den sozialen Zusammenhalt durch eine Vielzahl gemeinschaftlich organisierter sozialer Aktivitäten, Ausbildungs- und Business-Möglichkeiten, die in kurzer Entfernung von den Wohnorten erreichbar sind.
  • Portland, Oregon, will als Teil seiner Klimaschutzstrategie 90 Prozent der Stadt in „20-Minuten-Vierteln“ abdecken, in denen die meisten Grundbedürfnisse (ausgenommen der Arbeitsplatz) zu Fuß erreicht werden können.

So werden Städte zu gesünderen und lebenswerteren Umgebungen. Auf eine urbane Rekonfiguration dieser Art können die Menschen des 21. Jahrhunderts nach der Coronakrise hoffen.

Dieser Artikel ist ein Auszug aus der Trendstudie „Die Welt nach Corona. Business, Märkte, Lebenswelten – was sich ändern wird“. Die Studie dient als Leitfaden für die Post-Corona-Realität, auf die Unternehmen hinarbeiten können.



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Dieser Artikel ist in folgenden Dossiers erschienen:

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Folgende Menschen haben mit dem Thema dieses Artikels zu tun:

Oona Horx Strathern

Trendforscherin Oona Horx Strathern ist Expertin für Urbanisierung, Wohnen und Bauen. Sie beleuchtet als Keynote Speaker die Entwicklung unserer Lebensräume.