Der vermeintliche Widerspruch von Stadt- und Landleben manifestiert sich aktuell bei den Wahlen in zahlreichen westlichen Industrienationen. Ob Brexit, Trump, der Front National oder die AfD: laut Umfrageergebnissen sitzen die Befürworter einer Politik der Abschottung und des Protektionismus auf dem Land. Die Bevölkerung ist dort klassischerweise traditionellen Rollenbildern verhaftet und hat eine starke lokale Verankerung. Sie fühlt sich im Fortschritt einer globalisierten urbanen Welt zurückgelassen, sieht durch diese ihre originäre Identität bedroht.
Der Städter hingegen gilt als dynamisch, zukunftsorientiert und liberal. Er wiederum fürchtet, dass seine offene Vorstellung von Gesellschaft und Raum durch den vermeintlich rückschrittlichen und perspektivlosen Dorfbewohner politisch unterlaufen werden könnte. Diese antagonistischen Zuschreibungen
Die meisten Deutschen leben weder in einem Dorf noch in der glitzernden Großstadtmetropole – sondern in vergleichsweise kleinen Städten.
bilden dabei recht groteske Zerrbilder, deren Wahrheitsgehalt sich in der öffentlichen Debatte trotz Digitalisierung im postfaktischen Zeitalter der „Fake News“ zunehmend einer empirischen Überprüfbarkeit entzieht. Diese Desinformation macht Feindbilder erst möglich und erschwert das Erkennen qualitativer Stärken. Gerade deshalb lohnt ein genauer Blick auf die Beschaffenheit und das Zukunftspotenzial ruraler und urbaner Orte in Deutschland.
Wer genau hinsieht, dem eröffnet sich nämlich ein differenzierteres Bild von Stadt- und Landbevölkerung. Die meisten Deutschen leben nämlich weder in einem Dorf noch in der glitzernden Großstadtmetropole – sondern in vergleichsweise kleinen Städten.
Lediglich circa 15 Prozent der Deutschen leben laut Statistischem Bundesamt in Gemeinden unter 5.000 Einwohner und nur ungefähr 30 Prozent leben in Städten mit über 100.000 Einwohnern. Die Mehrheit der Deutschen wohnt also in Klein- und Mittelstädten. Wenn wir von Provinz oder Urbanität sprechen, geht es häufig gar nicht um die Größe des Ortes, sondern um die Mentalität der Bewohner. Stadt versus Land wird in aktuellen Debatten stets als Widerspruch formuliert, besonders wenn es um Fragen der kulturellen Identität geht, um Lebensstil, Konsumverhalten und Intellekt.
Heimat ist kein Ort
Eine Untersuchung von Konstantin A. Kholodilin vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung fragt provokativ nach der „Renaissance oder Decadence der großen Städte”. Die Wanderungssalden belegen, dass große Städte in Deutschland in erster Linie für Zuwanderer aus dem Ausland attraktiv sind. Berlin verliert beispielsweise bereits seit 1995 Bevölkerung an Brandenburg. Seit 2015 ziehen mehr Menschen aus Berlin weg und suchen sich einen anderen Wohnort im Inland, als aus dem restlichen Deutschland zuziehen. Heute zeigt die Binnenwanderung ein ganz klares Bild: Außer der Gruppe der Bildungswanderer – junge Erwachsene zwischen 18 und 29 Jahren – verlassen mehr Menschen aller Altersgruppen die deutschen Millionenstädte als aus anderen Regionen Deutschlands zuziehen.
Die glitzernde Metropole, die niemals schläft, verliert als dauerhafter Lebensraum in Deutschland an Attraktivität. Die wachsende Mobilität und die langsame Angleichung kultureller und ökonomischer Möglichkeiten durch digitale Netzwerke ermöglichen es vermehrt, zwischen urbanen und ruralen Räumen je nach Lebenssituation und Lebensphase zu pendeln. Wohnorte werden individuell gewählt, niemand muss sein ganzes Leben an einem Ort verbringen. Die eine Heimat gibt es nicht mehr, für urbane und rurale Nomaden gibt es hingegen Heimaten. Diese werden aktiv mitgestaltet, sie sind keineswegs nur noch an zufällige Gegebenheiten wie den Geburtsort geknüpft. Die Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus beschreibt Heimat als Lebensqualität, und darüber hinaus als Leistung, sich seine Umwelt anzueignen. Heimat hat weniger mit Orten als mit Beziehungen zu tun.
Dieser Text ist ein Auszug aus der Trendstudie „Futopolis“