Wie funktioniert die Wirtschaft in Zeiten von Low Growth? Prof. Dr. André Reichel über die Herausforderungen und Chancen der Postwachstumsökonomie für Unternehmen.
Adapt or Die!

Herr Reichel, Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit dem Thema Postwachstumsökonomie – was ist Ihre Prognose: Wie wird sich die Wirtschaft in 10, 20 oder auch 50 Jahren geändert haben?
André Reichel: In Deutschland und Europa werden wir es in den nächsten 20 Jahren weiterhin mit zurückgehenden Wachstumsraten und zunehmend mit einer Stagnation zu tun haben. Die Weltwirtschaft wächst zwar weiter, aber deutlich langsamer als in den 20 Jahren vor der Finanzkrise 2008. Und bis zur Jahrhundertmitte werden wir auch global Wachstumsraten von unter einem Prozent haben. Das heißt nicht, dass Unternehmen in solchen Umfeldern nicht wachsen können. Aber sie brauchen dafür neue Geschäftsmodelle und eine stärkere Vernetzung mit dem Rest der Gesellschaft. Und sie müssen anfangen, unabhängiger vom Wachstum zu werden. Damit stellt sich aber automatisch die Sinnfrage nach dem Zweck des Wirtschaftens: immer mehr Profit – oder vielleicht doch bessere, weil sozial und ökologisch vorteilhaftere Problemlösung für Kunden und andere Stakeholder.
Welche Branchen müssen besonders schnell reagieren, welche bleiben von der Wachstumswende eher unberührt, wo ist ein radikaler Umbruch zu erwarten?
Alle Branchen, die CO2- und energieintensiv sind, werden sehr schnell unter großen Druck kommen, sowohl von der ökologischen, aber auch der ökonomischen Seite her. Und wenn man sich die tagesaktuellen Nachrichten aus der Automobilbranche – Stichwort: Volkswagen-Abgasaffäre – anschaut, so erscheint mir eine Vogel-Strauß-Strategie der Handlungsvermeidung große wirtschaftliche und reputationsmäßige Kollateralschäden zu verursachen. Technologische oder regionale Nischenanbieter und örtlich gebundene und arbeitsintensive Dienstleistungsanbieter sind von so einer Wende in Richtung Postwachstum weniger betroffen. Aber auch Unternehmen der Circular Economy, die sich in Richtung Kreislaufführung von Produkten und neue Produktdesigns konzentrieren, können hier Vorteile haben. Generell werden sich aber alle Unternehmen mit einem Umfeld auseinandersetzen müssen, in dem niedriges gesamtwirtschaftliches Wachstum mit den Anforderungen an CO2- und Energieeffizienz zusammenkommt. Low Growth, Low Carbon und Low Energy konstituieren hier ein magisches Dreieck der Postwachstumsökonomie für Unternehmen.
Was raten Sie Unternehmen, die bisher auf das Wachstumsparadigma gesetzt haben?
Adapt or die! Die Frage, die sich Unternehmen stellen müssen, die auf Umsatzwachstum in Verbindung mit einem proportional steigenden ökologischen Fußabdruck setzen, lautet vereinfacht: Wie kannst du mit weniger Geld dein Geschäft möglichst dauerhaft aufrechterhalten? Und welches Geschäft kann das dann noch sein? Das führt dann direkt zur Frage nach dem Produkt und wofür die Kunden eigentlich Geld bezahlen. In der Luftfahrtbranche ist das Produkt z.B. CO2, und der Kunde zahlt letzten Endes dafür, dass mehr davon emitiert wird. Das kann schon heute nicht als nachhaltig gelten – in einer Umgebung niedriger und eventuell negativer Wachstumsraten ist es absolut tödlich. Aber es geht nicht nur um das Produkt und die Frage, für welche Geschäfte ein Unternehmen guten Gewissens noch Geld verlangen kann. Es geht auch um die Frage nach den Rahmenbedingungen des Unternehmens: Soll es öffentlich gehandelt werden oder ist ein "going private" unter diesen Gesichtspunkten nicht besser? Taugt die Kapitalgesellschaft noch als Rechtsform oder sind Stiftungen oder Genossenschaften nicht viel vorteilhafter? Es geht in jedem Fall ums Ganze, um die Zukunftsfähigkeit unternehmerischen Handelns im magischen Postwachstumsdreieck.
Welche Strategien sehen Sie für Unternehmen im Umgang mit Postwachstum?
Es bieten sich bereits im Heute wenigstens vier Strategien an. Erstens: der Rückzug in eine technische oder regionale Nische oder ein ganz bestimmtes Kundensegment. Exzellenz übertrifft hier alles. Zweitens: eine aggressive Red-Ocean-Strategie der Dominanz in der eigenen Branche, in einem bestimmten Markt, bei einer bestimmten Produktkategorie. Aber auch hier müssen die Quasi-Monopolgewinne für die Zeiten zurückgelegt werden, wenn auch der rote Ozean nicht mehr wächst. Drittens: Die Bereitstellung von Produkten und Services, die Suffizienz bei den Kunden ermöglichen und absolut reduktiv wirken, also weniger Ressourcen und Energie durch weniger Produkte. Viele Sharing-Lösungen weisen in diese Richtung und zerstören tendenziell etablierte, material- und energieintensive Lebensstile. Und viertens: Kollaboration mit Kunden, die als aktive Prosumenten verstanden und zum zentralen Teil des unternehmerischen Wertschöpfungsgefüges werden. Dabei kann das eigene Unternehmen soweit in den Hintergrund treten, das es "nur" noch Eigenversorgungsfähigkeit der Kunden sicherstellt, z.B. mit reparaturfähigen Produkten, dem Transfer von "Selbermach"-Know-how oder, wie einer meiner Studenten mit Blick auf die Automobilindustrie meinte: mit der Errichtung von Heimwerkermärkten für Autos.
Und was bedeutet der Umbruch in Richtung Postwachstum für unser Verständnis von Innovation?
Bislang denken wir bei Innovationen immer an "mehr" und "neu". Dabei können Neuerung durchaus auch, um mit Niko Paech zu sprechen, exnovativ wirksam sein. Damit ist z.B. die Energiewende gemeint, die eine Verdrängung kernfossiler Energieformen durch die Erneuerbaren zum Ziel hat, oder auch Anwendungen der Sharing Economy. Das alte Neue wird also aus der Welt exnoviert. In einer Postwachstumsökonomie kommen dann gezielt wachstumsabhängige, energie- und CO2-intensive Produkte und Geschäftsmodelle ins Visier. Innovation muss auch nicht unbedingt immer etwas Neues sein. Zum einen kann es sich um eine Renovation handeln wie z.B. das Re-Design und Re-Manufacturing von Produkten und der Streckung des Lebenszyklus, zum anderen um eine Imitation von Neuerungen, die sich früher schon einmal als brauchbar erwiesen haben. Der Biolandbau ist dafür ein klassisches Beispiel, früher war alles Bio. Exnovation, Renovation und Imitation beschreiben einen neuen Möglichkeitenraum für Postwachstumsinnovationen.
Was ändert sich auf der Konsumentenseite? Wie werden wir als Privatpersonen den Wandel in der Wirtschaft erleben?
Der Trend der vergangenen Jahrzehnte, der Aufstieg des Konsumentenkapitalismus, hat uns alle auf der einen Seite aus sozialen Abhängigkeiten befreit. Wir können unser Leben so gestalten, wie wir wollen, die Produkten und Dienstleistungen kaufen, die wir wollen – wenn wir über das nötige Einkommen verfügen. Gleichzeitig sind mit den sozialen Abhängigkeiten – der Enge der traditionellen Familie, der dörflichen oder kleinstädtischen Strukturen – aber auch soziale Verbundenheiten aufgelöst, eigene Fertigkeiten entwertet und durch Fremdversorgungsstrukturen ersetzt worden. Einiges davon wird sicherlich wieder in ein neues Verhältnis gesetzt werden. Wir sehen das schon heute, wenn Menschen sich als urbane Gärtner oder bei Repair Cafés betätigen, wenn also ein Stück weit Autonomie vom Markt auf die Einzelperson zurückgeht. Dabei werden wir sich nicht alle wieder anfangen, unser eigenes Gemüse anzubauen, aber jeder von uns wird sich ein Stück direkter und unmittelbarer als "Erzeuger" von etwas, vielleicht sogar als Unternehmer erfahren. Postwachstum kann also eine Vision von Freiheit enthalten, die die Autonomie des Einzelnen, in all seiner wechselseitigen Abhängigkeit, wieder mehr in den Vordergrund stellt.
Prof. Dr. André Reichel ist Professor für Critical Management & Sustainable Development an der Karlshochschule International University (Karlsruhe). Zuvor war er Research Fellow am Europäischen Zentrum für Nachhaltigkeitsforschung der Zeppelin Universität (Friedrichshafen). Reichels Forschungsschwerpunkte liegen in der betriebswirtschaftlichen Perspektive auf die Postwachstumsökonomie, insbesondere auf wachstumsresiliente Geschäftsmodelle und neue Erfolgsindikatoren. Mehr Infos unter http://www.andrereichel.de.
Im Zukunftsreport 2016 finden Sie eine umfassende Analyse von André Reichel zum Wandel von der Now Economy zur Next Economy.
Das Interview führten Lena Papasabbas und Christian Schuldt