Innovation für Bedürftige

Vom Künstler zum Sozialinnovator: Daniel Kerber gründete Deutschlands erstes Designbüro für humanitäre Innovation, das Millionen Flüchtlingen helfen könnte.

Von Sarah Volk (12/2015)

Daniel Kerber
Copyright: Malte Metag


Rund eine Million Flüchtlinge kamen 2015 nach Deutschland. Erstunterkünfte sind überfüllt, und der Bedarf an geeigneten Zufluchtsorten groß. Jetzt sind innovative Unterkunftslösungen und zukunftsweisende Formen der Zusammenarbeit gefragt.

Der "Werkhof" liegt versteckt hinter der alten Dralle-Fabrik beim Bahnhof in Hamburg-Altona. Nach der Stilllegung der Parfüm- und Seifenfabrik entstand dort in den 80er-Jahren ein Ort für alternative Arbeits- und Lebensmöglichkeiten. 

Sich hier anzusiedeln, passt gut zu Daniel Kerber: Mit seinem "Social Design"-Ansatz geht er keine ausgetretenen Pfade, sondern erarbeitet sich neue, alternative Wege, um humanitäre Missstände zu adressieren.

Bereits als Künstler beschäftigte sich der studierte Bildhauer mit improvisierten Wohnverhältnissen in Slums und Favelas, reiste nach Japan, um zu erfahren, wie Menschen ihr Zuhause nach einem Erdbeben wieder aufbauen. An der Schnittstelle zwischen Architektur, Stadtplanung, Design und Kunst fragte sich der 45-Jährige, was Menschen wirklich brauchen, um sich wohl und Zuhause zu fühlen. Und wie bringen sie das ohne fachliches Bauwissen zustande? "Wie kann man aus nichts einen funktionierenden Lebensraum machen?", ist eine der Fragen, die Antrieb für seine künstlerischen Forschungsreisen waren. Und für das, was folgen sollte: die Gründung eines Unternehmens. Reines akademisches Beobachten und späteres "Verwursteln in einer Ausstellung" war für ihn auf Dauer zu wenig.

So gründete Kerber 2012 in Hamburg das Sozialunternehmen More than shelters, das in prekären Wohnsituationen Abhilfe schaffen will. Laut Kerber ist das erste Produkt der Versuch, eine "eierlegende Wollmilchsau" zu kreieren – DOMO nennt es sich, und es soll das Beste aus Zelt und nachhaltigem Lebensraum vereinen. Leicht zu transportieren und aufzubauen, gleichzeitig Sicherheit, Wohlbefinden und Geborgenheit gebend, ist DOMO als eine Keimzelle gedacht, um Kräfte zu sammeln und wieder nach vorne schauen zu können.

DOMO in Hamburg Schnackenburgallee
DOMOs in Hamburg, Schnackenburgallee // Copyright: Malte Metag

Dieses Jahr werden die ersten 500 DOMOs ausgeliefert. 14 gingen nach Nepal, um dort nach dem verheerenden Erdbeben als Kinderheim und Schulort zu dienen, weitere 20 an das syrische Flüchtlingslager Za‘atari in Jordanien. Dort hat sich ein Teil des neunköpfigen Teams von "More than Shelters" auch personell niedergelassen, um zu gewährleisten, was Kerber sehr wichtig ist – dass ein DOMO gemeinsam mit den Menschen entsteht und wächst, die darin wohnen werden. "Wir machen das nicht am weißen Tisch – wir sind hier und dort. Und diesen Spannungsbogen hat vorher keiner aufgebaut", sagt Kerber. Er betont, dass das DOMO nicht als einzelnes Produkt zu betrachten sei, sondern als Baukasten, und dass der Ansatz "one size fits all" nicht ausreicht. "Das DOMO ist so konstruiert, dass es den Weg von Zelt zu Hütte zu Haus mitgehen und sich den speziellen Gegebenheiten vor Ort und den darin lebenden Menschen anpassen kann", erklärt er den modularen Ansatz.

Flüchtlingscamps re-innovieren

Notunterkunft, Flüchtlingslager – das hört sich nach kurzfristigen Übergangslösungen an, doch der durchschnittliche Lagerbewohner bleibt dort für rund zwölf Jahre. Deswegen ist Kerber überzeugt, solche Orte anders betrachten zu müssen. Nicht als zu verwaltendes Lager, sondern als lebendige Stadt. Für ihn und das Team ist ganz klar: Sie möchten mehr als nur ein besseres Zelt liefern. Kerber macht sich Gedanken, wie sich ein Flüchtlingscamp holistisch "re-innovieren" lässt. Dazu gehören die Fragen, wie sich Energieerzeugung, Wasserversorgung und Abwasserentsorgung nachhaltig gestalten lassen, wie die Bewohner sich mit eigenen Gärten selbst versorgen, wie Recycling und vielleicht sogar Upcyling stattfinden kann.

Um wirklich frei in der Gestaltung der unternehmerischen Aktivitäten zu sein, ist "More than Shelters" auf zwei finanziellen Säulen aufgebaut: zum einen als Verein, der Spenden generiert, und zum anderen als GmbH, um sich perspektivisch eigenständig zu tragen. Kerber verfolgt mit dieser Strategie die Querfinanzierung des humanitären durch den nicht-humanitären Bereich. Realisiert wird das durch Dienstleistungen wie Beratung und Vorträge, in Zukunft hauptsächlich über das DOMO – denn das wird auch an Privatleute, Festivalveranstalter, Messen und Öko-Ressorts verkauft. 

Um den aktuellen Notstand an Erstunterkünften für Flüchtlinge zu mindern, ist "More than Shelters" auch in Deutschland und auf der griechischen Insel Lesbos mit ihren DOMOS vertreten. Während die Unterbringung in Sporthallen und Zelt- und Containerlagern aufgrund der fehlenden Privatsphäre zu sozialen Reibungen führt, werden die innovative Gestaltung und die vielen Einsatzmöglichkeiten von DOMO den unterschiedlichsten Anforderungen gerecht – und können so zur Entspannung der Lage in den Flüchtlingslagern beitragen. Für die kalten Monate bietet die winterfeste Version – das DOMO ARCTIC – eine gesicherte Unterbringung, weil es thermoisoliert und schneefest ist. 

Kern der Arbeit bleibt der humanitäre Einsatz. Kerber sieht die mangelnde Versorgung mit nötigem Lebensraum als globale Krise, die noch nicht wirklich erkannt wurde: "Die Prognose ist, dass 2050 drei Milliarden Menschen unsicher und ungesund leben werden." Für ihn sind das drei Milliarden Menschen, deren Ideen und Talente verkümmern, da sie nicht produktiv sein können. Seine Hoffnung ist, mit "More than Shelters" einen Teil zur Lösung dieses Problems beizutragen.

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