Vom Gesundheitssystem genervte Patienten zwingen Ärzte und Institutionen zum Umdenken: Die Medizin von morgen setzt auf Kollaboration, Transparenz und Wissensfreiheit.
Share Caring: Die Demokratisierung der Medizin

Kaum ein Thema schlägt derzeit so hohe Wellen wie das der Gesundheit. Jeder möchte für sich das Bestmögliche, und zugleich war die Verunsicherung nie höher, was denn nun das „wahre“ Optimum ist. Und so reagieren die Menschen mit zunehmender Vorsicht und mit steigender Skepsis, wenn neue Skandale, Richtlinien, Nachrichten, aber auch Therapien Markt und Medien erreichen.
Unser Gesundheitssystem befindet sich in einem radikalen Wandel. Zwei Verständnisse prallen aufeinander: Das alte Modell, nachdem sich der Patient den Maßnahmen der Medizin Das Gesundheitssystem steckt in einer Vertrauensskrise zu unterwerfen hat, den Vorgaben des Systems ausgeliefert. Und eine zukünftige Praxis, geprägt vom Wunsch des Patienten nach Hoheit über die eigene Gesundheit, dem eigenen Körper sowie dem intuitiven Wissen, was für die persönliche Situation richtig ist. Dieser Zwiespalt stürzt das System in eine Vertrauenskrise, aus der die Branche nur herauskommt, wenn sie auf Kollaboration, Transparenz und Wissensfreiheit setzt.
Die Arzt-Patient-Beziehung kränkelt
Das Institut für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung veranstaltete im September 2013 eine Tagung zum Arzt-Patienten-Verhältnis in Berlin – mit entmutigendem Fazit. Gerade die Strukturreformen hätten dazu beigetragen, dass „neben Kosten (...) auch das Vertrauen in die Arzt-Patient-Beziehung weggespart“ wurde. Als Ausweg wird eine neue Kultur der Kooperation von Experten empfohlen, zu denen Politikberater, Gesundheitsökonomen, Vertreter der Ärztekammer, Professoren sowie Journalisten gehörten. Nötig sei der Wille zum Gesundwerden seitens des Patienten, Akzeptanz der Patienten seitens der Mediziner als gleichberechtigte Mitwirkende und Experten, aber auch interprofessionelle und sektorenübergreifende Kooperation.
Schulmedizin verliert an Vertrauen
Inwieweit das Vertrauen insbesondere in die Schulmedizin gesunken ist, zeigt auch die steigende Zahl von Kongressen und Seminaren, auf denen alternative Heilmethoden angepriesen werden. Oder aber auch die Liste an alternativen Therapien, die von herkömmlichen Krankenkassen bezahlt Ganzheitliche Ansätze und Zusatzversicherungen werden immer beliebter werden. So steigen die Mitgliederzahlen in der für ganzheitliche Medizin bekannten Krankenkasse Securivita trotz Skandal und Ermittlungen der Staatsanwaltschaft (ausgerechnet wegen Untreue) seit Jahren kontinuierlich an. Auch die Anzahl der Mitglieder, die auf Zusatzversicherungen setzen und sich ergänzend zu der gesetzlichen Krankenkasse absichern, hat sich in den letzten 14 Jahren zum Teil verzehnfacht.
Eine Krise der Kommunikation
Gesundheits-Konsumenten werden kritischer, nicht zuletzt weil Informationen so viel leichter zugänglich geworden sind. Zudem wächst die Skepsis gegen die Schulmedizin, wie sie derzeit kommuniziert wird. Während der Patient bestens informiert dem Arzt gegenübertritt, ist jener nur marginal an dem gesamten Menschen interessiert. Vielen fehlt auch einfach die Zeit, den Patienten, der immer mehr zum Kunden wird, in seiner Ganzheit zu erfassen. Die Folge sind eine steigende Anzahl von “medizinischen” Angeboten jenseits der empirischen Naturwissenschaften westlichen Ansatzes, die teilweise dem Begriff Alternativmedizin nicht gerecht werden. Die Grauzone reicht von immer mehr in die klassischen Arztpraxen Einzug haltenden Behandlungsmethoden wie Phytotherapie oder Akupunktur Gesucht wird eine neue Vertrauenskultur der Gesundheitsbranche bis hin zu sehr umstrittenen Ansätzen wie MMS-Tropfen oder Aurachirurgie. Insgesamt stieg die Anzahl der Heilpraktiker in den letzten Jahren erheblich an. Gab es im Jahr 2000 laut Statistischem Bundesamt 13.000 Heilpraktiker in Deutschland, waren es 2005 22.000 und 2011 bereits 35.000. Kein Wunder, haben Alternativmediziner doch häufig mehr als die bei Schulmedizinern üblichen durchschnittlichen acht Minuten für ihre Patienten/Klienten/Kunden Zeit.
Während es hierzulande in erster Linie ein Vertrauensmangel ist, welcher zu einem Trend zum Alternativmediziner führt, ist es in anderen Teilen der Welt der Mangel an jeder Art von Medizinern, der Quacksalbern Vorschub leistet. In Indien praktizieren alleine im Großraum Delhi 40.000 “falsche” Ärzte – sogar in privaten und staatlichen Kliniken. Ein Risiko nicht nur für die Bevölkerung, sondern auch für Reisende und nicht zuletzt für den Gesundheitstouristen. Schließlich wurde die Sparte des Medizintourismus in Indien lange Zeit als Boombranche gehandelt.
Gesucht wird eine neue Vertrauenskultur der Gesundheitsbranche. Ein Aspekt dabei muss sicherlich sein, dass Dienstleister Sicherheit transparent machen. Auf der anderen Seite ist es eine Angelegenheit der Ärzte, Heilpraktiker und des Gesundheitspersonals, über die Kommunikation ihrer Fortbildungen und Seminare verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. Nicht zuletzt ist es aber eine Frage der Kommunikation und des Miteinanders – und hier wird für die Zukunft des Vertrauens auf den Gesundheitsmärkten nicht zuletzt das Thema Sharing Economy interessant.
Geteiltes Leid: Die Shareconomy erobert die Gesundheitsbranche
Ob im Tourismus (AirBnB.de), in der Mobilität (Autonetzer.de), in der Arbeitswelt (Sharedesk.net) oder für Kleidung (Kleiderkreisel.de), Lebensmittel (Foodsharing.net) – Tauschen, Teilen, Gebrauchtkaufen ist in weiten Teilen der Gesellschaft längst Alltag. War es zu Beginn noch eine Sensation, dass sich Menschen ihre Privatgüter teilten, sind viele neue Sharing-Ideen heute kaum noch eine Meldung wert. Dennoch wächst die Idee weiter, nicht zuletzt in Bereiche, die in der ersten Partizipationswelle nicht primär fokussiert wurden - wie das Thema Gesundheit.
Schwarmintelligenz statt Zweitmeinung
Insbesondere das mangelnde Vertrauen in die Kompetenz, aber auch in die Motive klassischer Gesundheitsvertreter ist es, was Patienten, Klienten und Konsumenten nach alternativen Heilungsquellen suchen lässt. Wurde früher den Halbgöttern in Weiß vertraut, ist es heute das Vertrauen in die Weisheit der Masse, welches Medizin und Märkte bestimmt und künftig nachhaltig verändern wird. Zugrunde liegt der Wunsch der Patienten nach Transparenz, Selbstverwaltung und Ehrlichkeit, der umso lauter wird, je stärker die Ditigalisierung fortschreitet. In den sozialen Netzwerken jeglicher Couleur ist Austausch immaterieller wie materieller Dinge möglich.
P2P: Übersichtlichkeit durch Erfahrungsaustausch und Big Data
Portale, die Big Data mit einbeziehen, ermöglichen heute einen qualitativ hochwertigen Erfahrungsaustausch. Zum Beispiel Patienslikeme: User teilen hier ihre Krankheitsbilder, den Krankheitsverlauf samt Symptomen und berichten Medizinstudenten und Ärzte teilen ihr Wissen mit verunsicherten Patienten von ihren Therapien. Über Statistiken, aktuelle Daten aus der Forschung sowie durch den Vergleich mit anderen Patienten können sie ermitteln, was für Behandlungsmethoden noch infrage kommen bzw. am erfolgreichsten sind. Auf Washabich teilen Medizinstudenten, angehende und ausgebildete Ärzte ihr Wissen mit verunsicherten Patienten, die ihre Befunde dort einschicken können. Die ehrenamtlich Tätigen übersetzen das “Medizinerlatein” in “Patientendeutsch”, finanziert wird die Plattform über Spenden. Die Medizinstudenten lernen, die komplizierten Sachverhalte einfach dem Patienten zu erklären. 2014 wurde in Kooperation mit dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf zum ersten Mal im Rahmen der Ausbildung ein darauf aufbauender Kommunikationskurs angeboten, in dem die Studenten von einem Supervisor aus dem „Was hab‘ ich?“-Team lernen konnten.
B2B: Neue Sharingportale für Fachkräfte und Instrumente
Aber nicht nur medizinisches Wissen wird geteilt – auch Pflege oder Geräte lassen sich über die neuen Portale organisieren. Die niederländische Plattform Zorgvoorelkaar ist ein Marktplatz auf dem ehrenamtliche und professionelle Fürsorge vermittelt wird. Ein fast karitativer Ansatz: Die Freiwilligen erhalten keine oder nur eine geringe Aufwandsentschädigung. Nur die professionellen Helfer sind kostenpflichtig. Cohealo arbeitet mit dem Sharing-Prinzip in Krankenhäusern. Das in Boston sitzende Startup hat ein System entwickelt, mit dem die Ärzte einsehen können, welche Geräte oder Instrumente wo derzeit verfügbar sind. Dieses Kommunikationsprinzip Share Caring: Mehr Vertrauen, Wirtschaftlichkeit und Transparenz wird derzeit nur intern eingesetzt – in einem Krankenhaus oder aber auch zwischen mehreren Standorten eines Anbieters. 2012 begann das Unternehmen mit vier Kunden, hatte im Herbst 2013 bereits 40 Krankenhäuser unter Vertrag und expandiert seitdem beständig. Die nicht genutzen Geräte sind ein Millionengeschäft, und die Vision von Cohealo ist, das Prinzip auf alle in einer Region sich befindenden Krankenhäuser auszuweiten. Die Idee, sich gegenseitig medizinische Geräte auszuleihen, könnte künftig nicht nur auf einer weiter gefassten B2B-Ebene für Gesundheitszentren und -dienstleister interessant werden, sondern auch auf einer C2C-Ebene. Denn immer mehr Gesundheitsgeräte und -gadgets halten Einzug in private Haushalte. Bereits jetzt können Rollstühle oder Rotlichtlampen auf Portalen wie Leihdirwas.de gemietet werden – der Schritt weiter zu DNA-Geräten, mobilen Ultraschallgeräten etc. ist nur noch ein kleiner.
Von Car Sharing zu Share Caring: Der Gedanke des kollaborativen Konsums macht vor keiner Branche Halt. Und die Share Economy wird künftig vor keinem Bereich innerhalb der Gesundheitsmärkte Halt machen. Eine wachsende Anzahl an Ideen und Plattformen lässt den Gedanken der geteilten Gesundheit wachsen. Denn das Prinzip der partizipativen Gesundheit bietet Vorteile für alle Beteiligten: Mehr Vertrauen seitens der Kunden, mehr Wirtschaftlichkeit durch geteilte Anschaffungskosten und mehr Transparenz durch eine offene Kommunikationskultur.
Global Health: Der Medizintourismus boomt
Ob Zahnersatz, Augenlasern oder orthopädische Operationen: Der Patient von heute ist medizinisch weltweit unterwegs. Vorbei sind die Zeiten, als ärztlichen Behandlungen im Ausland ein gewisser Billig-Charme anhaftete. Die fortschreitende Globalisierung ermöglicht eine länderübergreifende Inanspruchnahme umfangreicher ärztlicher Behandlungen auf hohem Niveau. Zudem wird Medizintourismus für viele Länder und Regionen zunehmend zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor. Weltweit konkurrieren insgesamt 40 Länder um die lukrativen Tourismus-Patienten, unter anderen die USA, Südafrika das beliebteste Reiseziel für Herzoperationen die Schweiz, Singapur oder auch Costa Rica. Dabei genießen manche Länder in speziellen Bereichen einen besonders guten Ruf. So ist Südafrika das beliebteste Reiseziel für Herzoperationen und die Türkei und der Iran stehen ganz hoch im Kurs, wenn es um Augen-Operationen geht. Pro Jahr lassen sich, so die Einschätzung von Experten, mehr als 300.000 Deutsche im Ausland behandeln. Dabei zählen in der Regel europäische Staaten wie die Türkei, Tschechien oder Polen zu den favorisierten Reisezielen.
Doch warum reisen eigentlich so viele Patienten für medizinische Behandlungen ins Ausland? Laut Jens Juszczak, Leiter des Forschungsbereichs Medizintourismus der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg in Sankt Augustin, lassen sich drei Gruppen unterscheiden:
Patienten, die international nach den besten Behandlungsmöglichkeiten für ihr Leiden suchen. Die Frage nach den Kosten ist bei dieser Gruppe zweitrangig.Patienten, die ins Ausland reisen, weil die Behandlung dort günstiger ist als in ihrer Heimat. Das gilt vor allem für US-Amerikaner und Schweizer.Patienten, die Wartezeiten auf Operationen im eigenen Heimatland vermeiden wollen. Unter diesen Patienten finden sich vor allem Polen, Briten und Niederländer.
Health made in Germany
Denkt man an Medizintourismus, kommt man an Deutschland nicht mehr vorbei. Nahezu unbemerkt avancierte es in den letzten Jahren zu einem der populärsten Reiseziele für Medizintourismus. Deutsche Medizin ist so attraktiv wie nie und genießt international ein hohes Ansehen. Patienten Deutsche Medizin ist so attraktiv wie nie und genießt international ein hohes Ansehen schätzen unter anderem die Organisation, Standardisierungen sowie die Qualitätssicherung deutscher Kliniken. 2012 haben sich bereits 224.000 Patienten aus dem Ausland von Ärzten in Deutschland behandeln lassen. Das entspricht einem Plus von 8,6 Prozent in Vergleich zum Vorjahr – Tendenz weiter steigend.
Sei es mit „Bavaria – a better state of health“, „Health Region Freiburg“ oder „Medizintourismus entlang der Rheinschiene“, bereits jede zehnte deutsche Klinik widmet sich schon heute explizit dem Geschäftsbereich des Medizintourismus. Medical Experts Düsseldorf zum Beispiel ist ein Team von Ärzten, deren Auswahl auf einem Reputationsverfahren unter den Medizinern selbst basiert. Das bedeutet, dass Mediziner andere Mediziner empfehlen, die über entsprechende Qualitäten, Services und medizinische Fachkompetenzen verfügen. Daneben bieten Sie ausländischen Patienten Rundum-sorglos-Pakete mit Hotelbuchung, Beratung und Behandlung. Der Einsatz lohnt sich: Laut einer aktuellen Studie der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg verzeichneten 88 Prozent dieser Einrichtungen steigende Patientenzahlen und brachten dem deutschen Gesundheitssystem rund 1,1 Milliarden Euro ein.
Na sdarowje! Auf die Gesundheit!
Vor dem Hintergrund des Modernisierungsrückstands sowie fehlender erstklassiger Dienstleistungsangebote und nicht ausreichender Investitionen in den heimischen Medizinbereich, entwickelt sich der Medizintourismus auch in Russland rasend schnell. Und immer mehr Russen reisen dabei als Medizintouristen nach Deutschland. Kamen bis vor wenigen Jahren Nicht-EU-Auslandspatienten überwiegend aus dem arabischen Raum, rangiert jetzt Russland, mit 8.300 stationären und 12.400 ambulanten Behandlungen alleine im Jahr 2012, an erster Stelle der Auslandsquellmärkte – vor den Niederlanden und Frankreich. Einige Unternehmen wie zum Beispiel Medcologne Ltd. haben den Osttrend erkannt und bieten die Organisation und Betreuung medizinischer Reisen nach Deutschland an. Und auch die freie Wirtschaft hat mit Zentra ein kostenloses Portal mit Informationen zu Klinken, medizinischen Zentren und Statistiken erstellt.
Die Pflege wandert aus
Ein weiterer Trend zeichnet sich auch im Pflegebereich ab. Nicht mehr nur medizinische Behandlungen sondern zunehmend auch Pflegeleistungen werden ins Ausland verlegt. So entsteht zurzeit zum Beispiel auf der griechischen Insel Rhodos ein Pflegezentrum für Deutsche, inklusive Krankenpflegeschule und Deutsch sprechendem Personal. Es wird sich zeigen müssen, ob sich der Pflegetourismus genau so rasant entwickeln wird wie der Medizintourismus.
Kostendruck, demografischer Wandel, Lifestyle- und Werteverschiebungen auf der einen Seite, medizinische Krisengebiete und kollabierende nationale Gesundheitssysteme auf der anderen Seite: Patienten scheuen heutzutage keinen Weg auf der Suche nach Heilung. Operationsschnäppchen, günstige Körperoptimierungen und kürzere Wartezeiten sind dabei die ausschlaggebenden Gründe für den Weg ins Ausland. Die Welt der Medizin ist längst globalisiert und wird immer lukrativer. Neue offene Strukturen fördern ferner das Vertrauen des Patienten und garantieren einen einwandfreien Behandlungs-Aufenthalt.
Medical Education: Neue Strukturen für die Medizinbranche
Aufgrund des zunehmenden Ärztemangels müssen Patienten heutzutage in vielen öffentlichen Krankenhäusern nicht nur lange Wartezeiten, sondern vor allem immer weniger Zeit mit dem (behandelnden) Arzt in Kauf nehmen. Die Kommunikation zwischen Arzt und Patient beschränkt sich meist auf ein Minimum, und nicht selten sind ärztliche Entscheidungen nur schwer für den Patienten nachvollziehbar. Folgen davon sind Unzufriedenheit, Ängste und Vertrauensverlust. Neben der Perspektive Die Organisation deutscher Krankenhäusern ist veraltet der Patienten gilt es jedoch auch die Seite der Ärzte zu beleuchten. Oft wird vergessen, dass auch der Arzt nur ein Mensch ist und nicht der allwissende, immer verfügbare Halbgott in Weiß, auf den er nur zu gern reduziert wird. Dabei kämpft er nicht selten mit den gleichen Problemen wie der Patient.
Die Organisation deutscher Krankenhäusern ist veraltet. In der Regel herrschen hier strenge Hierarchien vor, bei dem die Macht in den Händen eines einzelnen liegt: dem Ordinarius (vulgo „Chefarzt“). Nicht selten gilt: Gehorsam wird belohnt und Widerspruch sanktioniert. Bei solchen Strukturen wundert es auch nicht, dass Ärzte frustriert sind, die Fortbildung junger Ärzte stagniert und der Umgang miteinander geprägt ist von Konkurrenzkampf.
Die Entmachtung des Ordinarius
Doch immer mehr Kliniken wenden sich von den maroden Hierarchien ab und strukturieren sich nach US-amerikanischem Vorbild neu. Flache Hierarchien erlauben dabei einen ausgewogenen Austausch zwischen einzelnen Disziplinen und Vorgesetzten. Darüber hinaus gibt es eine strukturierte Weiterbildung mit genügend Forschungsfreiräumen, eine Fehler- und Diskussionskultur sowie eine Administration, die auf die Bedürfnisse der Ärzte und Forscher zugeschnitten ist. In Deutschland gehört Wolfgang Feig zu den ersten, die das moderne Kliniksystem eingeführt haben. Als medizinischer Vorstand der Leipziger Universitätsklinik bündelte er die Orthopädie mit der Wirbelsäulenchirurgie, der Gelenkchirurgie, der Unfallchirurgie und der Hand- und Plastikchirurgie. Anstelle von zwei Chefärzten kümmern sich jetzt fünf gleichberechtigte Bereichsleiter um die einzelnen Abteilungen.
Vom Halbgott in Weiß zum Menschen
Zeitdruck, Überstunden, Nacht- und Wochenenddienste sowie eine hohe Verantwortung für Patienten: Der Tätigkeits- und Pflichtenbereich eines Arztes ist sehr umfangreich und aufreibend - und unzufriedene Ärzte führen in letzter Konsequenz zu unzufriedenen Patienten, die sich zu wenig beachtet fühlen. Doch auch hier ist ein Wertewandel zu erkennen: Ärzte arbeiten immer häufiger in Teilzeit. Eine neue Generation junger Ärzte nimmt verlängerte Weiterbildungszeiten und weniger Gehalt in Kauf und legt stattdessen mehr Wert auf eine ausgewogene Work-Life-Balance. Sie erwarten nicht nur ein regelmäßiges Feedback zu ihrer Arbeit, sondern vor allem mehr Transparenz und klare Ansagen über Karrierewege. Laut Statistischem Bundesamt stieg die Zahl von in Teilzeit arbeitenden Ärzten bereits von 42.000 (2005) auf 54.000 (2011).
Das von Maren Bongartz und Raphael Tsoukas gegründete Startup „Arzt in Teilzeit“ reagiert auf diese Entwicklung. Die Website bietet alle nötigen Informationen wie Praxis- und Klinikprofile und hat ein umfangreiches Jobportal für den flexiblen und ausgeglichenen Arzt von morgen. Der Trend zur Teilzeit wird zudem unterstützt durch den steigenden Anteil von Frauen im Arztberuf: Seit 1991 hat sich der Anteil der Ärztinnen von 34 Prozent auf 45 Prozent erhöht.
Konzentriertes Arbeiten
Medizinische Zentren Wir stehen vor einer zweifachen demografischen Herausforderung: Zum einen steigt mit einer immer älter werdenden Gesellschaft steigt auch die Zahl der Mehrfacherkrankungen. Zum anderen wächst der Ärztemangel, weil immer häufiger junge Ärzte nicht mehr in die behandelnde Tätigkeit einsteigen wollen. Gefragt ist deshalb eine Aufwertung ärztlicher Arbeit, attraktivere Arbeitsbedingungen sowie umfangreiche infrastrukturelle Maßnahmen. Spezialkliniken für Attraktivere Arbeitsbedingungen gegen den Ärzteschwund besondere Erkrankungen könnten eine Antwort darauf sein. Solche Gesundheitszentren sind unabhängig vom offiziellen Bettenplan normaler Krankenhäuser und der Erfolg beruht ausschließlich auf der hohen Qualität der Behandlungen. Da auf jeden Spezialisten 200 bis 300 Eingriffen jährlich kommen, ist die Heilungsrate dabei entsprechend hoch.
Wegweisend auf diesem Gebiet ist die auf Prostata-Operationen spezialisierte Martini Klinik in Hamburg-Eppendorf. Ein gleichberechtigtes und eng verzahntes Team aus sechs Professoren, Chirurgen, Pathologen und Radiologen sowie neun Operateuren arbeitet in einem hierarchisch flach strukturierten System zusammen und lassen viel Austausch zu. Hinzu kommt ein auf Feedback basierender Umgang mit dem Patienten. Jedem Patienten ist ein persönlicher Operateur zugeordnet, der sich ausschließlich mit ihm beschäftigt und ihm sämtliche Unklarheiten zu nehmen versucht.
Trendprognose
Die Medizinbranche schlägt neue Wege ein. Streng hierarchisch durchgetaktete Strukturen vergangener Tage lösen sich zunehmend zugunsten von mehr Transparenz und einem ausgewogenen Verhältnis von Freizeit und Beruf auf. Neue Gesundheitszentren fördern die Spezialisierung auf ausgewählte Gesundheitsbereiche sowie den diagnoseorientierten Austausch von Erfahrungen. Dem Patienten werden in Zukunft ausgeglichene und besser informierte Ärzte begegnen. Insofern bestehen durchaus Chancen, das abgekühlte Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient wieder zu beleben.
Quellen:
Institut für Qualitätsmessung und Evaluation: Ergebnisbericht der Mitgliederbefragung MB-Monitor 2014 „Ärztliche Weiterbildung“
Deutsches Ärzteblatt 2013; 110(42): A-1940 / B-1716 / C-1680. Im Schatten des Marktes: Eine Zwischenbilanz nach 20 Jahren. In: Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt, 10/2013.
Nielsen: Healthcare Marketing 2014. Statistisches Jahrbuch 2013, S. 131
Studie der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, 2013