Eine alte soziale Praktik entfaltet neue (Postwachstums-)Potenziale: Die Solidarische Landwirtschaft gibt Impulse für die Gestaltung einer neuen, nachhaltigen Ökonomie.
Von Birgit Blättel-Mink, Alexandra Rau und Sarah Schmitz (09/2015)
Eine alte soziale Praktik entfaltet neue (Postwachstums-)Potenziale: Die Solidarische Landwirtschaft gibt Impulse für die Gestaltung einer neuen, nachhaltigen Ökonomie.
Von Birgit Blättel-Mink, Alexandra Rau und Sarah Schmitz (09/2015)
Die vielfältigen Krisen der vergangenen Jahre, ökonomisch, sozial wie ökologisch, bewirken, dass kapitalistische Produktions- und Verwertungslogiken zunehmend kritisch hinterfragt und neue Versorgungspraktiken erdacht und entwickelt werden. Ob autonom organisierte Subökonomien in Nachbarschaftsnetzwerken, die Selbstverwaltung von Kliniken und Fabriken in Griechenland oder subsistenzorientierte Landwirtschaftsprojekte: Alle Phänomene reagieren kollektiv und solidarisch auf die „Vielfachkrise“ (Demirovic/Maihofer 2013).
Eine solche neue (aber eigentlich alte) soziale Praktik ist die Solidarische Landwirtschaft (kurz: SoLawi): Landwirte und Konsumenten schließen sich zusammen, um gemeinsam und solidarisch landwirtschaftliche Produktion und Versorgung zu realisieren. Einen Hintergrund dafür bilden die zentralen Probleme, vor denen die konventionelle Landwirtschaft steht:
Um diese Probleme zu lösen, setzt die SoLawi auf Marktunabhängigkeit und eine Abkehr von der Warenförmigkeit – mittels Solidarität und „Prosuming“, also der Auflösung der strikten Trennung von Produktion und Konsumtion. Statt warenförmigen Lebensmitteln werden landwirtschaftliche Tätigkeiten finanziert, die landwirtschaftlichen Erzeugnisse werden geteilt und für mögliche Risiken, etwa Ernteausfälle, wird gemeinsam aufgekommen.
Wer aber beteiligt sich an SoLawi und warum? Wie genau funktionieren die einzelnen Höfe? Und welche Chancen und Potenziale eröffnet diese neue soziale Praxis für die Netzwerkökonomie? Diesen Fragen ging ein Forschungsprojekt an der Goethe-Universität Frankfurt am Main nach.
Hinsichtlich ihrer Selbstwahrnehmung bzw. Selbstdarstellung lassen sich die einzelnen Höfe drei unterschiedlichen Typen zuordnen. Die Höfe des „gesellschaftspolitischen“ Typs verstehen SoLawi nicht nur als alternatives landwirtschaftliches System, sondern auch als politisches Mittel. Der Zweck ist dabei die gesellschaftspolitische Emanzipation von einer kapitalistischen Wirtschafts- und neoliberalen Gesellschaftsordnung. Vorrangige Mittel sind Prosuming, Solidarität und die Abkehr von der Warenförmigkeit.
Im Mittelpunkt des „spirituell-gemeinschaftlichen” Typs steht die Wahrnehmung einer emotionalen oder empathischen Entfremdung zwischen Mensch, Land und Natur als Problem derzeitiger Landwirtschafts- und Gesellschaftspraxis. SoLawi wird hier vor allem als Bildungserfahrung verstanden. Dahinter steht die Erwartung, die Aufklärung und die eigene Erfahrung von landwirtschaftlicher Produktion könne das Bewusstsein für eine „menschen- und tiergerechte“ landwirtschaftliche Praxis steigern. Vor allem der Solidarität kommt dabei eine zentrale Rolle zu.
Die Höfe des „pragmatisch-ökonomischen” Typs organisieren SoLawi dagegen in einer Art Vertragslandwirtschaft und insofern eher als gewöhnliches Wirtschaftsmodell. Dies impliziert, dass eine Kopplung von Ware und Warenwert bei einigen Höfen durchaus bestehen bleibt. Diesen Höfen geht es stärker um die dauerhafte Existenzsicherung von (klein-)bäuerlichen Betrieben als um gesellschaftspolitischen Wandel oder ein verändertes Mensch-Natur-Verhältnis. Dieser Typ hat Ähnlichkeiten mit der „Öko-Kiste“, wo die Trennung von Erzeugung und Konsumtion bestehen bleibt, die Produkte jedoch hohen ökologischen Ansprüchen entsprechen.
Kann nun der – durchgängig „grünen“ – Solidarischen Landwirtschaft das Potenzial für eine „kopernikanische Wende“ zugeschrieben werden, wie es der Initiator eines Hofes beschreibt?
Zwei Szenarien sind für die weitere gesellschaftliche Verbreitung denkbar:
Quellen:
Canenbley C., Feindt P. H., Gottschick M., Müller C., Roedenbeck, I. (2004). Landwirtschaft zwischen Politik, Umwelt, Gesellschaft und Markt. Problemwahrnehmungen von LandwirtInnen, agrarpolitischen Akteuren, Umweltwissenschaften und im Zusammenhang mit der Koexistenz gentechnischer, konventioneller und ökologischer Landwirtschaft. Universität Hamburg: BIOGUM-Forschungsbericht Nr.10.
Demirovic, A., Maihofer, A. (2013). Vielfachkrise und die Krise der Geschlechterverhältnisse. In: Nickel, H. M., Heilmann, A. (Hrsg.). Krise, Kritik, Allianzen. Arbeits- und geschlechter-soziologische Perspektiven, Beltz Juventa: Weinheim und Basel, S. 30-49.
Forschungsgruppe Solidarische Landwirtschaft (2013). Solidarische Landwirtschaft - eine soziale Innovation? Eine empirische Studie aus soziologischer Perspektive. Unver. Arbeit, Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Loick, D. (2014). Stichwort: Exodus. Lebens jenseits von Staat und Konsum? In: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. 11, S. 61-66.
Birgit Blättel-Mink ist Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Industrie- und Organisationssoziologie am FB Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Forschungsschwerpunkte: Soziale Innovationen, Nachhaltige Entwicklung, Arbeit und Geschlecht.
Alexandra Rau ist promovierte Soziologin. Sie arbeitet derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Soziologie mit Schwerpunkt Industrie- und Organisationssoziologie am FB Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Forschungsschwerpunkte: Arbeit und Psyche, Gouvernementalität, Arbeit und Geschlecht.
Sarah Schmitz studiert den Master Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie ist Mitglied der Studentischen Forschungsgruppe Solidarische Landwirtschaft und studentische Hilfskraft an der Professur von Birgit Blättel-Mink. Interessensschwerpunkte: Krisen kapitalistischer Strukturen, alternative Lebensformen, Geschlechterforschung.