Was ist der derzeit wichtigste Trend?

Gegenfrage: Was ist ein “Trend?”
Ist ein Trend ein Prozess, den man messen und “beweisen” kann?
Ist ein Trend ein Produkt mit Absatz-Zunahme?
Ist ein Trend ein Bedürfnis, das sich tief in der Gesellschaft organisiert – um etwas Bedrohliches, Quälendes, ein ZUVIEL, auszugleichen?
Ist also ein Trend womöglich immer auch ein GEGENTREND? 
Falls die letztere Definition stimmt, dann existiert in der Tat EIN Wort, dass eine zentrale tiefe Sehnsucht unserer Gegenwart beschreibt: Achtsamkeit. Im Englischen klingt es noch schöner: 

Mindfulness. 

Achtsamkeit hat nichts mit dem abgenutzten WELLNESS zu tun. Wellness ist ein Marketing-Begriff. Ein Kind der industriellen Logik. Wellness lässt sich umstandslos konsumieren. Es geht darum, uns wieder ”fit für den normalen Stress” zu machen. Es geht dabei um Verwöhnung in der Freizeit. 

Achtsamkeit ist hingegen ein radikales, ein sperriges Wort. Es lässt sich nicht verflachen oder auf einen Freizeitsektor einschränken. Es handelt von der generellen Art und Weise, wie wir MIT UNS UND DER WELT umgehen.

Rüdiger Safranski hat die Gründe für den Aufstieg der Achtsamkeit in einem Interview des EUROPEAN neulich auf den Punkt gebracht:

"Heute erleben wir das, was sich kein früheres Jahrhundert erträumen konnte: das Erlebnis von Gleichzeitigkeit. Unsere Handlungs- und Wahrnehmungswelt gehen dramatisch auseinander. Das erzeugt unterschwellig eine unglaubliche Hysteriebereitschaft.“

„Wir sind überfordert. Wir sind gereizt. Wir erfahren zu viel und wissen zu wenig. Hilflos strampeln, schneller sein, in zu vollen Verkehrsmitteln, das Dauerrauschen von Gier und Angst, all das macht: sauer. Neidisch. Aggressiv.“ Das schrieb die Kulturhysterikerin Sybille Berg neulich in ihrem Blog. Hat sie unrecht, nur weil sie gerne etwas hysterisch übertreibt?

„Jeder Aufmerksamkeitswechsel hat metabolische Kosten – gezahlt wird in Glukose, Zucker im Hirn“, formuliert der Neurowissenschaftler und Musiker Daniel Levitin. Im totalen Medien-Zeitalter sitzen wir irgendwann vor einem Gewirr flackernder Zeichen, unfähig, irgendeine Handlung auszuführen. Wir sind Opfer einer mentalen Gewalt, die keinen Täter kennt, aber viele Opfer.

Levitin  hat den kognitiven Meltdown, der uns in einer Welt, in der es kein Nah und kein FERN mehr gibt, irgendwann ereilt, in seinem Buch "The Organized Mind" genauer beschrieben. „Wir hören von Revolutionen und ökonomischen Problemen und schrecklichen Einzelfällen überall Rolf Dobelli: „Nachrichten sind gesundheitsschädlich. Ich will die Kontrolle über mein Hirn zurück!" in der Welt. Unsere Hirne saugen all das hungrig auf, weil sie dazu evolutionär konstruiert sind. Aber gleichzeitig konkurriert all dies um unsere neuronalen Aufmerksamkeitsressourcen.“ Auf jeder Medien-Website dasselbe Gemenge: Diktator Putin droht mit Atomwaffen, Rihannas Hintern, 20 Tips für einen nachhaltigen Karriereweg. Aber all das gibt keinen Sinn mehr, keine Resonanz, in der wir zuhause sein können.

Paul Dolan, der Autor von “Happiness by Design”, behauptet: Glück ist nichts anderes als die “Allokation von Aufmerksamkeit”.

Wie “macht” man Achtsamkeit? Eben darin besteht das Paradox. Achtsamkeit entsteht erst, wenn wir loslassen. Wenn wir einige Schritte zurücktreten uns UNS UND DIE WELT beobachten. Klar kann man daraus ein Geschäft machen. Natürlich hat die Achtsamkeit inzwischen auch ein kommerzielles Brimborium erzeugt, die übliche Mischung aus halbseidenen Kursen und Apps und Studios und Gurus, Bestsellern und “Anleitungen in zehn Schritten…”.  Aber anders als “Wellness” und “Motivation” sperrt sich die Achtsamkeit ziemlich störrisch der kommerziellen Ausbeutung. Das liegt auch daran, dass jeder eine andere Frage, einen ganz eigenen Weg damit verbindet.

“Wie kommt man oben aus der Postmoderne wieder heraus?” – fragt der Dramaturg und Stückeschreiber Wolfram Lotz.

Ja, wie? 

Der Philosoph Alain de Botton schreibt in seinem Buch “The News – A Users Manual":

"Wir brauchen lange Zugreisen, bei denen wir kein Wifi-Signal haben und nichts zu lesen, während unser Abteil meistens leer ist, mit Sicht auf Hügel und Horizonte,  und wo das einzige Geräusch das rhythmische Klicken und Rasseln der Räder ist. Wir brauchen Flugreisen mit einem Fensterplatz und nichts anderem, auf das wir unseren Blick lenken können als die Spitzen von Wolken  und die konstante Gegenwart der Rolls-Rode Turbinen, die uns, nur wenige Meter weit weg, in der unvorstellbaren Kälte tapfer am leben halten. Und uns dabei helfen, unsere Gedanken vagabundieren zu lassen. “ (S. 254). 

Achtsamkeit bedeutet, Wissen wieder an Kompetenz, Information an Vermögen, Kommunikation an Verstehen zu koppeln. Dazu gehört: Geduld lernen. Wenn man in alltäglichen Situationen – an der Bushaltestelle, beim Arzt, beim Autofahren – den Geist aufmerksam wach hält, ohne ständig an seinem Smartphone zu fummeln, hat man schon einen gewaltigen Schritt zur Freiheit geschafft. Achtsamkeit ist Ablenkungs- und Aufmerksamkeitsdiät. Nur dass es sich hier nicht um Verzicht, sondern um einen MENTALEN REICHTUM handelt. 

Wenn man Menschen beobachten kann, ohne sie unentwegt  zu ranken – zu bewerten, zu be-urteilen, zu beschimpfen, wie das in der hypervernetzten Welt usus ist –, erfährt man den Segen einer tiefen Weltverbundenheit. Vielleicht meinten das die alten Hippies aus den 70ern: Be the one you're with.

Wer achtsam ist, hört auf zu Jammern.

Achtsamkeit scheint auf den ersten Moment eine Abkoppelung von der Wirklichkeit. Sie bedeutet, dass wir uns wieder trauen, eine eigene Welt im HIER UND JETZT zu definieren. UNSERE Welt. Sie Welt unserer Wahrnehmung.

Wenn selbst Mercedes seinen Mitarbeitern Mail-Zwangspausen und digitalen Urlaubs-Absentismus verordnet, dann ist das Thema Achtsamkeit in der Mitte der Wirtschaft angekommen. Der Pharmakonzern Genentech startete unlängst ein ehrgeiziges Mindfulness-Programm für seine Mitarbeiter. Intel und SAP erhöhte mit einem ähnlichen Versuch die seelische Zufriedenheit seiner Mitarbeiter. 

Wie Slavoj Žižek spottete: „Wenn Max Weber noch lebte, würde er einen Ergänzungsband zu seiner protestantischen Ethik mit dem Titel ‚Die taoistische Ethik und der Geist des globalen Kapitalismus‘ schreiben.“

Die neueste Kult-Managerveranstaltung nach TED in Kalifornien heißt übrigens WISDOM 2.0. Ihr nur leicht ironisches Motto lautet: BEING OMLINE. 

Empfehlen Sie diesen Artikel!

Dieser Artikel ist in folgenden Dossiers erschienen:

Dossier: Achtsamkeit

Dossier: Achtsamkeit

In einer überfüllten, überreizten, überkomplexen Welt müssen wir lernen, uns auf neue Weise auf uns selbst zu besinnen. Unsicherheit, Disruptionswahn und Big-Data-Hype treiben daher einen starken Gegentrend voran: Achtsamkeit. Dieser Mindshift wird auch für Unternehmen zum Maßstab der Zukunftshandelns.

Folgende Menschen haben mit dem Thema dieses Artikels zu tun:

Matthias Horx

Matthias Horx ist der einflussreichste Trend- und Zukunftsforscher im D-A-CH-Raum und Experte für langfristige Entwicklungen in Gesellschaft und Wirtschaft.