Das Marketing hat seine Formungsmacht verloren, Schein-Innovationen und „Branding” funktionieren nicht mehr. Das Marketing von morgen baut auf authentische Innovation.
Von Matthias Horx (08/2015)
Das Marketing hat seine Formungsmacht verloren, Schein-Innovationen und „Branding” funktionieren nicht mehr. Das Marketing von morgen baut auf authentische Innovation.
Von Matthias Horx (08/2015)
Drei Milchbauern in Schleswig-Holstein haben es satt, EU-Subventionen hinterherzulaufen, immer geringere Preise zu bekommen und mit Superturbo-Kraftfutter und Hormonen immer noch mehr Milch aus ihren Kühen herauszuquetschen. Sie gründen eine Kooperative und nennen sich schön plattdeutsch "de Öko Melkburen". Sie lassen ihre Milch als Jahreszeiten-Milch verpacken, weitgehend naturbelassen. Und vertreiben von nun an direkt in großen und mittleren Städten. Die Sommer-Winter-Herbst-Frühlingsmilch gibt es nur in ausgewählten Bioläden in Norddeutschland. Sie ist dauernd ausverkauft. Kunden kommen extra auf den Hof, um sie zu kaufen.
Eine Gruppe niederländischer Design- und Modeproduzenten hat genug von den teuren Designer-Jeans, die mit giftigen Farbstoffen unter ausbeuterischen Bedingungen hergestellt und nach ein, zwei Jahren Tragezeit im Müll entsorgt werden. Sie gründen MUD Jeans. Bei MUD kann man Jeans online LEASEN. Für 9 Euro pro Monat bekommt man ein Beinkleid aus zertifizierter Fair-Trade-Bio-Baumwolle, schonend gefärbt, zu fairen Löhnen produziert, hundert Prozent recycelbar . Man kann die Jeans später reparieren lassen oder sie als Gebrauchtjeans mit einer persönlichen Geschichte an einen Zweit-Träger weitergeben. Oder man schickt sie zurück. Mud Jeans nennt sich einen Pionier der CIRCULAR ECONOMY. Einer Ökonomie, in der es keinen Müll mehr gibt. Viele Gegenstände GENUTZT statt gekauft werden. Und aus RE-Cycling UPCYCLING wird.
Die Sportswear-Firma Patagonia, von passionierten Bergsteigern gegründet und inzwischen weltweit erfolgreich, warnt ihre Kunden davor, zu viele ihrer Produkte zu kaufen. Alte Kleider lassen sich reparieren. Halte Deinen Kleiderschrank übersichtlich! Wirf nichts einfach weg! Schon gar nicht unsere Produkte! Gib sie uns zurück! Wir geben dir Geld dafür! Die Firma produziert viele Daunenjacken für den Winter- und Outdoor-Sport. Als Marketing-Maßnahme zeigt sie einen Trickfilm im Netz, der die Herkunft von DAUNEN problematisiert: Gänse werden zwangsgefüttert und bei lebendigem Leibe gerupft - nicht mit uns! Das Motto von Patagonia: Stelle das beste Produkt her, belaste die Umwelt dabei so wenig wie möglich, inspiriere andere Firmen, diesem Beispiel zu folgen und Lösungen zur aktuellen Umweltkrise zu finden!
Drei Beispiele für Marketing der neuen Art. Oder Beispiele für ein Marketing, das sich selbst abschafft. In diesen Firmen und Produkten ist Markt-Wirtschaft wieder identisch mit sich selbst: Sie orientiert sich an tatsächlichen (Veränderungs-)Bedürfnissen der Kunden. Aber auch den "Storys", die die Unternehmer, Kunden und Produzenten zu erzählen haben. Dieses neue Marketing braucht sicher auch Absatzkanäle, Aufmerksamkeits- und Point-of-Sale-Strategien. Aber es braucht eben nicht mehr jenes "Marketing", hinter dem sich nichts als Absatzfördermaßnahmen, Rabattierungen und mehr oder minder hinterlistige Manipulationen des Kaufverhaltens verbergen.
Vor allem braucht dieses neue Marketing keine "Verbraucher" mehr. Es will niemanden erreichen, der eigentlich kein Interesse hat. Es kann gut leben mit dem neuen PROSUMER: Dem ständig zerrissenen, nie erreichbaren, sich in keine Zielgruppe einordnen lassenden Individualisten der modernen Welt. Der sich im Internet so gut informiert hat, dass er keine weiteren Belehrungen braucht. Und der gleichzeitig frustriert ist, dass es keine echte ALTERNATIVE gibt zu dem, was da täglich in Billionen Tonnen von Gütern auf den Markt fließt.
Vor zwanzig Jahren, als in Deutschland die ersten Trend-Agenturen entstanden, war Marketing DIE Zukunfts-Branche schlechthin. Die Eingangshallen der Werbetempel hatten die teuersten Kunstwerke und das coolste Design. Werber waren keine Reklame-Leute mehr, sondern "Kreative Kommunikatoren". Eine Zeitlang schien es, dass die Hälfte aller gut verdienenden Menschen in den besseren Großstädten mit schwarzen Yamamoto-Klamotten herumliefen und den Titel "Art Director" auf ihrem Büttenpapier-Visitenkarten stehen hatten.
Das war lange vor der großen Zeit der Finanzjongleure und dem Bankencrash. Die großen Marken waren damals noch gemütliche Dampfer, die ihr Tun und Wirken am Begriff der QUALITÄT orientierten. Ein Markenprodukt unterschied sich von anderen käuflichen Dingen durch Kontrolle und Normierung. Es stand für Verlässlichkeit. Gleichförmigkeit. Kontinuität. Vertrauen.
Auch die alten, großen Marken hatten Geschichten zu erzählen. Und die Werber konnten diese Geschichten übersetzen. Sie taten es mit Humor, mit Ironie, mit Anfällen von genialischem Größenwahn. Im Marketing-Fieber wurden Produkte nun zu "Kult" und Marken zu "Ikonen". Und Werbung zu Kunst, die man gegen Eintritt in Programmkinos im Hauptprogramm betrachtete.
Das alles funktionierte so gut, dass die Umsätze vieler Konsum-Unternehmen in den Himmel schossen. Im weiteren Verlauf ergriffen in vielen klassischen Konsum-Unternehmen die Marketing-Abteilungen die Macht. Sie waren nun direkt dem Vorstand untergeordnet. Oder gleich der Vorstand selbst. Das setzte eine fatale Spirale in Bewegung: Zunehmend wurden die Innovationsstrategien direkt vom Marketing bestimmt. Meistens, eigentlich immer, handelte es sich um reine LINE EXTENTIONS: Um Schein-Innovationen, die eine bestimmte Produktreihe in mehr Varianten auffächerten. Aus Rasierklingen wurden softe und halbsofte und stahlharte und Dreifach-Vierfach-Achtfach-cross-cool-turbo-vibrations-Rasierklingen. Aus Putzmitteln wurde weißende, scheuernde-turbo-frischende und schließlich All-in-one-Natur-Putzmittel. Das führte die Konsumkultur zu ungeahnten Höhen. Aber wie die Analysten mit ihrem Bonus-Systemen das Bankensystem ins Nirwana führten, zerstörte das Marketing auf Dauer sein eigenes Geschäft. Der eigentliche Kern des Marktverhältnisses blieb auf der Strecke. Das Vertrauen. Die Veränderung. Das reale Neue.
BRANDING stammt vom glühenden Rinder-Eisen, mit dem Kühen ein Brandzeichen eingebrannt wird. Dabei kann auch etwas schiefgehen. Die Consulting-Firma Landor befragte im November 2014 Markennutzer nach ihrer Meinung zu großen Marken und deren Verkaufsstrategien, heraus kam ein massives TMI-Syndrom: TOO MUCH INFORMATION. Wir haben keine Ahnung mehr, was das alles bedeuten soll. Nivea bringt Cremes auf den Markt, mit denen man sich unter der Dusche einschmiert, um die Creme dann abzuduschen. Lidl schwört auf Nachhaltigkeit, obwohl es ein knallharter Discounter bleibt, bei dem die Angestellten eher schlecht bezahlt werden. Coca-Cola bringt eine grüne Limonade auf den Markt, die sich nach wie vor als Zuckerbombe herausstellt. Alle sind nachhaltig. Auch McDonald’s ist demnächst biobio. Alle Regalmeter sind längst besetzt. Das ist die Konsequenz, wenn man Kunden immer nur als "Verbraucher" sieht.
Jede Branche hat ihren Zyklus, ihren Zenit, ihren TIPPING POINT. Und so verlor das Marketing seine kulturelle Formungsmacht gleichzeitig mit der großen Bankenkrise, die ja auch eine Vertrauenskrise unserer Lebens-Gewohnheiten und Glaubens-Systeme war.
Bis vor Kurzem noch fielen Umweltfragen eigentlich in das Metier der katholischen Kirche. Vor zwanzig Jahren schon prognostizierten wir einen Trend zum ÖKOLOZISMUS (Trendbuch 2 von 1994) – zum Ablass-Symbolkauf für das Gute. GREENWASHING hat sich seitdem bis in alle Produktgattungen hinein verbreitet. Die "Ohne-Logik" ist ein typisches Beispiel: Viele Produkte kommen heute ohne Fett/Kalorien/Konservierungsstoffe/Eiweiß/Gluten/Schadstoffe/Bindemittel/you name it daher. Auf diese Weise entstehen Null-Produkte in Enttäuschungsmärkten. Man wird nicht satt. Man wird nur frustriert.
Aber längst hat sich die Umwelt-Logik verändert. Umwelt ist nicht mehr die hehre, romantische heile Natur, die man schützen muss, indem man schöne Autos durch einsame Landschaften fahren lässt oder Waschmittel zu perlenden Gebirgsbächen zeigt. Entstanden ist ein ökologischer Hedonismus, der das Gute mit dem Sinnvollen verbinden will, und dabei den Genuss als Orientierung nimmt. "Intelligente Verschwendung" nennt der Cradle-to-Cradle-Protagonist Michael Braungart diese neue Form der Welt-Verbindung.
Für die großen Marken-Firmen wäre das eine gute Gelegenheit, sich von der Politik des schlechten Gewissens zu verabschieden. Es ist nicht so, dass die großen Unternehmen den Wandel nicht gemerkt hätten. Nicht wenige Firmen gerieren sich heute als wahre Welt-Revolutionäre mit hohem moralischen Anspruch. "Die Welt retten", das wollen heute Siemens, Edeka und die Betreiber von Kernkraftwerken. Aber moralische Behauptungen sind eben ein zweischneidiges Schwert. Wenn der Energiekonzern, der sein Business mit Kohle macht, seine grünen Marketingkampagnen fährt, ist das ein sicheres Anzeichen für einen inneren Bruch. Man kann davon ausgehen, dass das Unternehmen demnächst pleite ist. Oder sich in eine "good bank" und eine "bad bank" aufspaltet.
Heute will man hinter der Nachhaltigkeits-Behauptung die GANZE FIRMA sehen: Die Kultur, die Absichten, die Motivation, den Spirit. Marketing morgen heißt: eine Geschichte von Menschen erzählen, die sich vorgenommen haben, etwas herzustellen, was Menschen wirklich lieben und brauchen. Weil es ungewöhnlich schön ist. Oder echte Probleme löst. Weil es die Welt rettet. Oder Spaß in einer Weise macht, für die der Mensch geschaffen ist. Das können auch große Firmen. Alte Firmen. Aber das Marketing allein kann es nimmermehr.