Der TV-Spot ist tot, es lebe der TV-Spot: New-TV-Experte Ralf Klassen über das Ende und die neuen Wiedergeburten der Fernsehwerbung im digitalen Zeitalter.
Von Ralf Klassen (08/2015)
Der TV-Spot ist tot, es lebe der TV-Spot: New-TV-Experte Ralf Klassen über das Ende und die neuen Wiedergeburten der Fernsehwerbung im digitalen Zeitalter.
Von Ralf Klassen (08/2015)
"Thirty seconds in your face" – so wurde der TV-Spot zum mächtigsten Werbemittel der Welt. Noch immer liegt er an der Spitze aller Kampagnenspendings, Milliarden und Abermilliarden fließen seit den 40er-Jahren in die Produktion und Verbreitung dieses Konsum-Frontalunterrichts. Und doch verliert die Fernsehwerbung, die in Deutschland in diesem Herbst übrigens ihr 60-jähriges Jubiläum feiert, rapide an Dominanz.
Auf seinem klassischen Terrain, dem großen TV-Bildschirm, gerät das Geschäftsmodell der Free-TV-Sender massiv unter Druck. Denn die Reichweiten der linearen 24-Stunden-Programme, in denen täglich weit über hundert Werbeinseln verteilt sind, erodieren. Vor allem an den Randzeiten, aber zunehmend auch in der Prime-Time, verliert "das Fernsehen" signifikant Zuschauer an die alternativen Unterhaltungsangebote aus dem Netz oder neue Video-on-demand-Anbieter wie Netflix oder Amazon. Zwar ist die tägliche TV-Sehdauer in Deutschland seit Jahren nahezu unverändert, sie wird aber nur noch durch eine immer geringere Zahl von immer älteren Zuschauern erreicht. Die für die Werbewirtschaft (vermeintlich) attraktiveren Zielgruppen lösen sich mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit von alten Sehgewohnheiten.
Nachhaltige Werbeeffekte, sei es in Markenbildung oder Abverkauf, lassen sich im traditionellen Fernsehen nur noch mit einer massiven Frequenzerhöhung pro Kampagne erreichen oder mit aufwendigen, spektakulären Spots, für die allerdings nur noch Großkonzerne Budgets bereitstellen. Die schnelle, kreative, amüsante Idee hat in der neuen, globalen Bewegbildwelt nur noch Außenseiterchancen auf Erfolg. Schon immer waren die "Werbepausen" eine beliebte Gelegenheit andere Geschäfte abzuwickeln, nun tritt auch noch der "Second Screen", das stets griffbereite Smartphone mit seinen unendlichen Angeboten, in den Kampf um die Aufmerksamkeit des Zuschauers ein.
Die Gegenmaßnahmen zur Krise sind beinahe rührend: So recyceln die Allianz und andere Unternehmen derzeit bekannte Kampagnen aus den 70ern und 80ern, um sich in der zunehmend alternden Zuschauerschaft des klassischen TV noch zumindest Sympathiepunkte zu sichern.
Anderswo gibt es sogar bereits Belohnungsprogramme wie TVSmiles, die Geld- und Sachprämien ausschütten, wenn man genügend TV-Werbespots gesehen hat. Kontrolliert wird das per Smartphone-App, die – ähnlich wie das Musikerkennungsprogramm "Shazam" – an den Geräuschen erkennt, welche Spots im eingeschalteten Fernsehgerät laufen.
Auch im Netz finden die klassischen Spots keine neue Heimat – im Gegenteil. Vielen sind sie schon zum Hassobjekt geworden, weil Sender, Verlage und andere Publisher im Rennen um ein paar digitale Pennys rücksichtslos oft vor jedem Kurzvideo noch einen Spot schalten lassen. Oft sind die Spots, die meistens 1:1 aus den Werbekampagnen des "großen Fernsehens" übernommen werden, länger als die eigentlich angesteuerten Clips danach. Auch dieser Overkill ist für den Siegeszug der Adblocker verantwortlich, kleinen Softwarecodes, die das Abspielen von Werbung im Netz verhindern. In Deutschland schätzt man den Anteil der so geblockten Spots auf über 30 Prozent.
Und bei den Usern, die ohne Werbeblocker unterwegs sind, sind die Abbruchzahlen für die Werbeclips so hoch, dass Youtube sogar die Funktionen "Diesen Spot nach fünf Sekunden wegschalten" erfunden hat, um überhaupt noch Zuschauer für die eigentlichen Inhalte zu gewinnen. Kann es ein größeres Armutszeugnis in der Werbekommunikation geben?
Immerhin, es gibt noch Hoffnung für das Genre: Die Nutzungszahlen von Bewegtbildangeboten auf allen digitalen und klassischen Kanälen übertreffen alle anderen Medienformen immer noch um ein Vielfaches. Tendenz dank Youtube und Netflix und Co. ständig steigend. Auch Werbe- und Marketingkommunikation über Bewegtbild kann weiterhin eine dominierende Rolle einnehmen, dafür ist die emotionalisierende Kraft des Mediums zu stark.
Doch es muss sich – stärker möglicherweise als alle anderen Formen – an die Gesetze der neuen Zeit anpassen. In der Cherry-picking-Ära des digitalen Fernsehens verfangen die platten und nervenden Sprüche, mit denen die Spots allzu oft auftraten, nicht mehr. Es ist eine neue Chance für wirklich Kreative in Agenturen und Produktionsfirmen, die Botschaften ihres Kunden durch emotionale und intelligente Geschichten an Frau und Mann zu bringen.
Einige gelungene Beispiele konnte man schon zur Fußball-WM 2014 sehen, als mehrere große Konzerne über Monate hinweg aufbauende Kampagnen fuhren, bei denen in TV, Netz und Mobil, fein gestrickte Kurz- und Langversionen von "echten" Storys präsentiert wurden – zum Beispiel "The Last Game" von Nike:
Es war eine komplett neue Art, Marken und ihre Produkte zu bewerben. Mit teils gigantischen Erfolgen, vor allem auch in den attraktiven Zielgruppen. Hier und in vielen kleineren Beispielen, nicht nur in der Werbung, sondern zum Beispiel auch im Journalismus, zeigen sich die neuen Chancen für Bewegtbildkommunikation. Nur die alten Regeln – Südafrika + Topmodell + Beauty Shot – sie gelten halt nicht mehr.
Und wenn alles nicht hilft, übernimmt der Kunde eben selbst. In Großbritannien macht mit "Seen it" gerade eine Website Furore, auf der Nutzer ausgewählter Produkte ihre selbstgedrehten Werbespots über eben diese Produkte präsentieren können – und dafür bei Gefallen vom Unternehmen entlohnt werden.
Ralf Klassen schrieb unter anderem für den SPIEGEL über Medien und verantwortete in leitenden Positionen viele Print-, Online- und TV-Angebote (u.a. für Hörzu, ARD, Stern). Mit seiner eigenen Multimedia-Agentur „One TV“ produziert und berät er seit 2013 v.a. in Sachen Webvideo.