Bill Brysons „Kurze Geschichte der alltäglichen Dinge“ lehrt uns in tieferes Verständnis für die Wechselwirkungen langfristiger Trends.
Die Innovationen der Vergangenheit
Dieses Buch ist im engeren Sinne kein Zukunftsbuch – es handelt von Vergangenheit, von der mittleren und jüngeren Kulturgeschichte. Und doch lehrt uns Bill Brysons „kurze Geschichte der alltäglichen Dinge“ ein tieferes Verständnis für die langfristigen Trends, Wechselwirkungen und Tiefenströmungen, die unseren Alltag in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten so nachhaltig transformiert haben. Nachdem der aus den USA stammende und in Großbritannien lebende Journalist und Sachbuchautor 2005 in seinem Weltbestseller „Eine kurze Geschichte von fast allem“ auf 700 Seiten salopp die Natur- und Menschheitsgeschichte abgefrühstückt hatte, stellt er nun scharf auf den Alltag der Menschen (vor allem der angelsächsischen, muss man einschränken) und fokussiert kurzweilig die häuslichen Praktiken im Wandel der Zeit.
Anhand eines Rundgangs durch sein Haus, ein englisches Pfarrhaus aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, unternimmt Bryson thematisch passende Ausfälle: In der Küche wird eine Geschichte des Kochens, der Ernährung und der Nutzpflanzen erzählt, im Ankleidezimmer eine Historie der Stoffe und Bekleidung und im Flur, anhand des Sicherungskastens und der Mauernische für das stationäre Telefon, eine kurze Geschichte der Elektrifizierung, Beleuchtung und der Telekommunikation. Rasant – und mitunter etwas idiosynkratisch – wird dabei vom kleinen Detail aufs große Ganze der Weltenläufte heraus- und wieder hineingezoomt.
Die eigene Logik kultureller Innovationen
Was wir daraus lernen, ist zum einen, dass sich technische und kulturelle Innovationen gemäß einer eigenen und eigensinnigen, fast anthropologischen Logik vollziehen und – ähnlich der natürlichen Evolution – an sich unverbunden ähnliche Resultate zeitigen. Und nichts ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist: „Ackerbau und Viehzucht wurden unabhängig voneinander mindestens siebenmal erfunden – in China, Neuguinea, den Anden, Mexiko, Westafrika, im Nahen Osten und im Amazonasbecken. Auch Stadtsiedlungen entstanden gleichzeitig an sechs verschiedenen Orten – in China, Ägypten, Indien, Mesopotamien, Mittelamerika und in den Anden.“ Selbst Hunde wurden zeitgleich an drei Orten der Welt domestiziert.
Andererseits müssen manchmal mehrere Dinge zusammenkommen, Strömungen und Rinnsale zusammenlaufen, bis aus einer Erfindung eine durchschlagende Innovation wird, die den „Chasm“, die Kluft zwischen „Early adopters“ und „Mainstream“, überspringt und das alltägliche Leben der breiten Masse grundlegend verändert. So wurde das Prinzip zur Haltbarmachung von Nahrung mittels Konservendose schon 1810 erkannt, der Durchbruch kam aber erst hundert Jahre später mit der Erfindung von dünnem Stahlblech, arbeitsteiliger Fertigung – und der Erfindung einer praktischen Methode des Öffnens, wie Bryson anschaulich schildert:
„Die ersten Behälter waren aus Schmiedeeisen, deshalb schwer und praktisch nicht zu öffnen. Bei einem Konserventyp lieferte man die Anweisung, wie sie mit Hammer und Meißel zu öffnen seien, gleich mit. Soldaten attackierten sie vorzugsweise mit dem Bajonett oder beschossen sie mit Kugeln. Damit aus der Erfindung was wurde, musste man auf die Entwicklung leichter Materialien warten, um dann die Dosen auch in Massen produzieren zu können. Während zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Arbeiter – wenn er sich ranhielt – ungefähr 60 Dosen am Tag herstellen konnte, warfen im Jahr 1880 Maschinen täglich 1.500 aus. Nur das Öffnen blieb noch sehr lange ein Riesenproblem. Verschiedene Geräte wurden patentiert, doch leicht zu handhaben war keines, und manches hochgefährlich, wenn es abrutschte. Der sichere moderne Dosenöffner – der mit den beiden Rädern und dem Drehknebel – stammt erst aus dem Jahr 1925.“
So erkennen wir uns als Bewohner des digitalen Zeitalters im Rückspiegel wieder zwischen all den kauzigen Adligen, verkannten Genies und vergessenen Erfindern, die Brysons Buch bevölkern: als bequeme und behäbige Mängelwesen, umzingelt von bahnbrechenden neuen Technologien, zu denen oft noch der passende Dosenöffner fehlt.
Bill Bryson: Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge. Goldmann Verlag (2011)