Talentismus: Üben, üben, üben

In Zeiten des Talentismus gilt es, eine neue Einstellung zum Scheitern zu finden. In “The Talent Code” zeigt Daniel Coyle, wie das gelingen kann

Ist Talent angeboren oder Zufall? Liegt es an der Bildung oder an einer glücklichen Kindheit? Spätestens seit der Begriff „War for Talents“ zum Standard-Repertoire in Wirtschaftskreisen geworden ist, kursieren mannigfaltige Antworten dazu. Mit „The Talent Code“ versucht der Autor Daniel Coyle nun, Klärung in viele dieser Fragen zu bringen. Schon der Untertitel des Buches räumt mit so manchen Mythen auf und zeigt seine Grundthese: „Greatness isn’t born. It’s grown.“

“Futsal” als “Deep Practice”

Untersucht hat Coyle das Talent-Phänomen anthropologisch: Er reiste durch die ganze Welt, um an den Schmelztiegeln des Talents zu beobachten und zu lernen, wie es entsteht. So führt ihn seine Reise unter anderem nach Brasilien – ein Land, das schon viele legendäre Fußballstars hervorgebracht hat. Aber nicht, wie Coyle erfährt, weil sie Fußball trainieren, wie wir ihn kennen. Die meisten Brasilianer spielen Futsal: eine Art Fußball, der auf hartem Untergrund (meist Beton), einem wesentlich kleineren Spielfeld und mit einem kleinen, harten Ball gespielt wird. Das Tempo des Spiels ist schnell, die Räume immer eng. Es erinnert mehr an Basketball denn an Fußball. Um dieses Spiel zu beherrschen, ist eine ganz spezielle Art des Lernens notwendig, die der Autor „Deep Practice“ nennt. Ein Üben, das sich portioniert auf kleine Schritte, ein Probieren, Scheitern, sofort nochmal Anfangen, wieder Scheitern, gleich wieder Trainieren und Verbessern, bis eine kleine Bewegung eintrainiert ist. Das Scheitern erzeugt dabei die Aufmerksamkeit, die man braucht, um eine Verkettung von Abläufen hinzubekommen. So trainieren die Futsal-Spieler kleine Bewegungsmuster ein, scheitern, fangen wieder an. Und erst im Laufe der Zeit wird daraus ein Ablauf „wie aus einem Guss“.

Dies gilt natürlich nicht nur für Sportler: Ob Musiker, Forscher oder Koch – das Zerlegen in kleine Portionen, das Scheitern und Wiederversuchen ist es, was Talent bildet. Dieses Konzept klingt dabei theoretisch sofort logisch und schlüssig. Aber in der Praxis wird es in den seltensten Fällen wirklich angewandt. Denn es braucht viel Zeit am Beginn. Ein in „The Talent Code“ angeführtes Experiment Das Zerlegen in kleine Portionen, das Scheitern und Wiederversuchen ist es, was Talent bildet des Psychologen Henry Roedinger von der Washington-Universität in St. Louis zeigt dieses Phänomen. Studenten wurden in zwei Lerngruppen unterteilt, um einen historischen Text zu lernen. Gruppe A hatte vier Lerneinheiten, um den Text zu lernen. Gruppe B dagegen hatte nur eine Lerneinheit, die Studenten wurden aber im Anschluss dreimal dazu getestet. Eine Woche später wurden beide Gruppen getestet, und Gruppe B schnitt um 50 Prozent besser ab, obwohl sie nur ein Viertel der Zeit zum Lernen hatte. Die Anwendung des Wissens, das Scheitern in kleinen Schritten in den Tests gleich nach dem Lernen hatte die Gruppe besser gemacht. Aber warum ist das so?

Bei diesen kleinen Schritten bildet sich ein Stoff namens „Myelin“ in unserem Nervensystem, welcher für den Lerneffekt der Deep Practice verantwortlich zeichnet. Jede Bewegung, jeder Gedanke oder jedes Gefühl des Menschen ist letztlich eine genau abgestimmte Abfolge von elektrischen Signalen entlang von Neuronen in einem System von Nervensträngen. Myelin ist jener Stoff, der diese Stränge ummantelt und dadurch verstärkt. Je öfter man einen spezifischen Kreislauf „befeuert“, desto mehr bildet sich dieses Myelin und verstärkt die Abläufe. Übung ist also eine biologische Voraussetzung für das Lernen!

Angesicht komplexer werdender Umwelten ist ein gezieltes Arbeiten am eigenen Talent essenziell. Dass dazu auch noch Passion und meisterhaftes Coaching gehört, führt Coyle in dem Buch wunderbar aus. Ein Buch, das einen schönen narrativen Bogen zu werdenden Talenten spannt und dabei brauchbare Hinweise gibt, um dies ins eigene Leben zu übersetzen.

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Megatrend Wissenskultur

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Die Welt wird schlauer: Der globale Bildungsstand ist so hoch wie nie und wächst fast überall weiter. Befeuert durch den Megatrend Konnektivität verändern sich unser Wissen über die Welt und die Art und Weise, wie wir mit Informationen umgehen. Bildung wird digitaler. Kooperative und dezentrale Strukturen zur Wissensgenerierung breiten sich aus, und unser Wissen über das Wissen, seine Entstehung und Verbreitung, nimmt zu.

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