In der Individualisierungsära gehören Talent-Shows längst zum Standardset medialer Selbstinszenierung. Zusehends wird das Prinzip nun auf andere Lebensbereiche übertragen
Casting-Kult reloaded: Möge der Bessere gewinnen
Vor nicht allzu langer Zeit partizipierte man gelegentlich an Malwettbewerben und Sportwettkämpfen, und zumeist wiesen die Teilnehmer zumindest ein gewisses Maß an Talent auf. Heute gibt es Wettbewerbe, bei denen Talentlosigkeit kein Hindernis ist – Hauptsache anders, Hauptsache bizarr: von der Schnick-Schnack-Schnuck-Weltmeisterschaft, dem High-Heels-Rennen bis zum Extrembügeln – dem Bügeln an „ungewöhnlichen“ Orten: etwa auf dem Meeresgrund, auf einem Felsvorsprung oder beim Wasserskifahren – „Ironman“ mal anders. Das Guinness-Buch der Rekorde ist voll mit Beispielen solch sinnfreier Aktivitäten.
“Air Sex”: Zwei Minuten Sex mit der Luft
Wer glaubt, Luftgitarre zu spielen sei albern, der hat noch nicht von dem Phänomen „Air Sex“ gehört. Erfunden hat es eine Gruppe von gelangweilten Single-Männern aus Tokio. Beim Air Sex geht es darum, zwei Minuten lang Sex mit der Luft zu haben. Es gibt nur wenige Regeln: Die Teilnehmer dürfen nicht nackt sein und keinen echten Orgasmus haben – eine parodistische Porno-Performance. Bald schwappte das Phänomen nach Amerika über: Die Kinokette Alamo Drafthouse hält alle zwei Monate Air-Sex-Veranstaltungen ab und einmal jährlich eine Weltmeisterschaft.
Nicht alle kuriosen Wettbewerbe sind neue Erfindungen, viele von ihnen gründen auf teils jahrhundertealten Bräuchen, wie das Pfahlsitzen im Heidepark in Soltau (geht auf die christlichen Säulenheiligen zurück), das Brennnessel-Wettessen im englischen Dorset, das Käserennen in Gloucestershire (ebenfalls in England) Pfahlsitzen, Brennessel-Wettessen und Ehefrauentragen oder das Ehefrauentragen im finnischen Sonkajärvi, welches durch eine örtliche Legende von einem Räuber inspiriert wurde, der Ende des 19. Jahrhunderts Frauen aus den umliegenden Dörfern entführt haben soll. Seit 1267 findet jährlich auf der Egremont Crab Fair der sogenannte „Gurning Competition“ (to gurn = Grimasse schneiden) statt, bei dem möglichst groteske Grimassen gezogen werden. Früher bekam man solche Skurrilitäten allenfalls auf Postkarten zu Gesicht, heute erlangen Wettbewerbe wie dieser mittels Blogs, Sozialen Netzwerken und Onlinevideos umfangreiche Bekanntheit.
In einigen Fällen ist der Wettbewerb ein fester Bestandteil eines bestimmten Fernsehformats. Er kann die Form von Mutproben annehmen, etwa wie beim notorischen Känguru-Hoden-Essen im Dschungelcamp, wo sich Promis auf dem absteigenden Ast in der Hoffnung auf neue Rollen vor den Kameras produzieren. Manchmal sind die Mutproben sogar das Leitmotiv für Sendungen, wie vor Jahren bei MTVs Jackass, welches den Weg für das “Sadomasochismus-für-die-Quote“-Format bestimmter Reality-Shows bereitete. Hier führen Protagonisten gefährliche, selbstverletzende und manchmal ekelerregende Stunts und Mutproben durch: Sie führen sich rektal Feuerwerke ein (und zünden sie an), sie posieren mit einem Haken in der Wange als Haifischfutter oder lassen sich bei einer Fahrt über Schlaglöcher tätowieren. Nicht ganz so krass: In Man vs. Food reist Host Adam Richman durch die USA und stellt sich in lokalen Restaurants sogenannten „Food Challenges“: Dabei geht es darum, eine zumeist große Menge extrem scharfen oder fettigen Essens zu verzehren.
Auch die Kategorie Schönheitswettbewerbe hat sich gewandelt: Längst geht es nicht mehr nur um Schönheit wie bei den Miss-World-Competitions und Child-Beauty-Pageants oder um Muskeldefinition wie bei den Bodybuilding Contests. Im Zuge der Ausdifferenzierung haben sich unzählige Nischenkategorien gebildet. Der aktuelle Trend der Körpermodifikation mittels Schönheitsoperationen wird in dem seit 2009 in Ungarn stattfindenden Wettbewerb „Miss Plastic“ evident. Das ist noch längst nicht das Maximum des Makabren: Von Plastik bis Muslim: Eine neue Ära der Miss-Wahlen 2008 fand in Saudi-Arabien der erste „Miss-Muslim-Moral“-Wettbewerb statt, bei dem gemäß traditioneller muslimischer Werte die Frauen nicht etwa im Bikini, sondern in Burka auftraten. Bei dem „Miss Landmine“-Wettbewerb, der in Kambodscha und Angola ausgerichtet wurde, erhielt die Gewinnerin eine Prothese aus Gold. 2012 gab es den ersten „Miss-Holocaust-Survivor“- Wettbewerb, bei dem von Hunderten von Holocaust-Überlebenden 14 Frauen (im Alter von 74 bis 97 Jahren) aufgrund ihrer persönlichen Geschichte (die äußere Schönheit zählt „nur“ zu 10 Prozent) ausgewählt wurden.
Das Phänomen Casting erschließt neue Bereiche
Auch der Casting-Begriff hat sich erweitert: Traditionell wurden professionelle Performer, etwa Schauspieler und Sänger, gecastet. Hierzu präsentierten sie ihre Fähigkeiten vor einer Jury, die dann über die Tauglichkeit entschied. Dieses Format kam Anfang der Nullerjahre als Talent-Shows ins deutsche Fernsehen. In Sendungen wie Popstars und Deutschland sucht den Superstar wurden, je nach Sendung, talentierte Sänger, Akrobaten, Tänzer oder Musiker gesucht. Im Fernsehen ist die Rolle der Juroren jedoch weiter gefasst als in der Berufswelt: Sie nehmen verschiedene Parts ein. „Der Unbarmherzige“, „der Beschwichtigende“ usw. Mit ihren Kommentaren und Streitigkeiten untereinander tragen sie maßgeblich zum Unterhaltungswert der Sendung bei. Bald wurden aus den Casting-Shows „Voting-Shows“, denn mit den Anrufeinnahmen lässt sich gut verdienen.
Unter tausenden von Bewerben und ebenso vielen Auditions wird die Spreu vom Weizen getrennt, wobei die Spreu durchaus auch von Interesse ist: Ein großer Reiz des Reality-TV ist das sogenannte Das eigene Humankapital wird mit maximalem Gewinn vermarktet Fremdschämen, der Peinlichkeitsfaktor, so dass die Produzenten von vornherein nach beiden Extremen Ausschau halten: nach wahrem, rohem Talent und nach jenen talentfreien Kandidaten, deren Auftritte Demütigung und Blamage versprechen. Obwohl diesen Teilnehmern ihr Unvermögen oft bewusst ist, wollen sie dennoch auf die Bühne, denn mittlerweile ist der Promi-Kult auch in Deutschland derart ausgeprägt, dass manche Menschen um jeden Preis berühmt sein wollen, egal warum und egal wofür. Die Idee der Selbstvermarktung wird in Szene gesetzt und das eigene Humankapital mit maximalem Gewinn verwaltet und vermarktet.
Der Reiz ganz normaler Menschen
Casting-Formate haben im Zeitalter der Vollindividualität für den Zuschauer hohe Attraktivität. Zum einen, weil die Bewerber in der Regel ganz normale Menschen sind – der Zuschauer kann sich mit ihnen identifizieren. Häufig sind es Menschen ohne besondere Qualifikationen, die ihrem gewohnten gesellschaftlichen Umfeld entfliehen möchten. Viele haben Migrationshintergrund: Neun der zehn Kandidaten, die es 2007 aus den rund 29.000 Bewerbern in die Finalrunde der vierten DSDS-Staffel geschafft hatten, stammten aus eingewanderten Familien. Diese Menschen sind keine fertigen Superstars, vielmehr begleiten die Zuschauer die Kandidaten auf dem „Weg zum Erfolg“. Die Geschichten suggerieren: Jeder kann es schaffen.
Ein weiterer Grund, warum Talent-Shows gesehen werden: Gerade wenn sie über einen längeren Zeitraum gehen, wird eine Beziehung zum persönlichen Favoriten aufgebaut. Bei Sendungen mit hohem Fremdschämpotenzial wie DSDS spielt der Lästerfaktor ebenfalls eine große Rolle. Das bewerten Medienwissenschaftler wie Bernd Gäbler kritisch. Der Lästerfaktor spiegele die gesellschaftliche Aggressivität. „Casting-Shows treffen den Zeitgeist“, bringt Maya Götz, Leiterin des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen, die Popularität der Sendungen auf den Punkt.
Medienwissenschaftler wie Norbert Bolz gehen so weit, zu behaupten, wirkliches Talent störe hierbei nur, denn dies nähme dem Zuschauer die Illusion, hier entstünde eine Schöpfung aus dem Nichts und folglich “Persönlichkeit” als neuer Prominenzermöglicher die Idee, auch der Zuschauer selber habe eine reelle Chance. „Medieninduzierte Popularität“ nennt man es, wenn die Popularität kaum durch künstlerische Qualitäten unterfüttert ist, sondern rein durch zynisch-parodistische Qualitäten zusammengehalten wird. Bezeichnend ist das Beispiel Big Brother: Hier werden die Kandidaten nicht nach Talent, sondern nach „Persönlichkeit“ ausgesucht. Die Persönlichkeit reicht mitunter aus, um sie, zumindest vorübergehend, zum Star zu machen.
Real-Life-Castings für Mitbewohner und Mitarbeiter
Das Interesse der Zuschauer an Casting-Shows ist nach wie vor groß. Nun wird der Begriff „Casting“ weiter gedacht: Wer schon mal ein WG-Zimmer gesucht hat, weiß, wie mühsam die Suche sein kann. Man nimmt sich einen halben Tag frei, um sich die WG anzuschauen - und stellt fest, dass man nichts mit den Leuten gemeinsam hat. Eine Beschränkung auf WG-Casting-Webseiten kann dieses Erlebnis verhindern: Durch eine Online-Vorauswahl wird eine gewisse Grundkompatibilität hergestellt, das erspart beiden Parteien Zeit und Nerven. Dennoch kann die Suche stressig sein, denn das Casting-Format erstreckt sich noch weiter: Einmal in die „nächste Runde“ gekommen, finden sich die WG-Suchenden oftmals in einer Situation wieder, die einem Verhör gleicht. Aufgrund der Wohnungsknappheit erhalten die WGs manchmal dutzende Anfragen täglich – bei so viel Nachfrage werden die Ansprüche hochgeschraubt. Die Bewerber werden genauestens unter die Lupe genommen, Fragenkataloge zu Hobbys und Privatleben durchgegangen, und in einigen Fällen müssen die Kandidaten sogar Bilder malen. Mit etwas Glück werden sie zum „Recall“ eingeladen.
Auch im Rahmen von Personalauswahlverfahren wird das Casting-Format längst angewendet. In einer Variation des altbekannten Assessment-Centers ermittelt ein Gremium den Bewerber, der die beste Show für die zu besetzende Stelle liefert. Dazu werden dem Bewerber verschiedene Probleme gestellt und seine „Das härteste Personalauswahlverfahren der Welt“ „Figur“ im Umgang damit bewertet. Das kann über Tage gehen und wird von Insidern als „das härteste Personalauswahlverfahren der Welt“ bezeichnet. Die Aufgaben umfassen Rollenspiele, Gruppendiskussionen, aber auch die klassische Präsentation. Schließlich wird beim „Gabeltest“ im Restaurant unauffällig geschaut, ob das bisher beobachtete Verhalten mit dem privaten Umgangston zusammenpasst. Kommunikationsfähigkeit, Leistungsmotivation und je nach Position Führungsqualitäten sind es, die den Bewerber für den Recall qualifizieren. Im Idealfall kommt auf jeden Recruiter ein Bewerber. Entsprechend kostet jeder Tag pro Teilnehmer eine vierstellige Summe.
Das Casting-Prinzip erobert die Gesellschaft
Menschen lieben es, sich in Wettbewerben zu messen - und die Neuen Medien fördern die Neuschaffung und Verbreitung ausgefallener Wettbewerbe. Castings, ursprünglich das Bewerbungsgespräch für Schauspieler und Sänger, ermitteln nun auch in anderen Zusammenhängen Talente. Das Casting-Prinzip wird innovativ auch auf viele andere Bereiche übertragen, etwa die Jobwelt oder die Immobilienbranche.