Erfolgreiche Co-Kreation mit Künstlicher Intelligenz (KI) erfordert exponentielles Denken – ein Gastbeitrag von Dirk Nicolas Wagner, Professor für Strategisches Management an der Karlshochschule International University.
Co-Kreation mit KI: Exponentiell denken!
„Hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst.“ Dieses als Red-Queen-Hypothese bekannt gewordene Zitat aus Lewis Carrolls Roman „Alice hinter den Spiegeln“ (1871) ist bei Change-Management-Experten seit einigen Jahren sehr beliebt. Denn wie viel schneller Unternehmen in Zukunft rennen müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben, wird gern unterschätzt. Der Treiber ist KI, die exponentiell verlaufende Lernkurven möglich macht.
So vermag KI in der Präzisionslandwirtschaft die Erträge zu vervielfachen, und beim autonomen Fahren, wo die gefahrene Strecke ohne menschliche Intervention im vergangenen Jahr um 300 Prozent auf über 5.000 Meilen (GM-Cruise) anwuchs. Umgekehrt verläuft die exponentielle Kurve abnehmend, wenn mit Hilfe von KI Fehler oder Kosten minimiert werden, etwa bei der Minimierung der Fehlerrate in der Spracherkennung auf vor wenigen Jahren noch unvorstellbares, menschliches Niveau oder bei der Reduzierung von Fehlartikeln im Supermarktregal auf fast null Prozent. Im Gesundheitswesen sind die Kosten für die Entschlüsselung eines Genoms seit der Jahrtausendwende von 100 Millionen auf unter 100 Dollar gefallen – die Basis für KI-basierte, individuelle Präzisionsmedizin.
KI-Vorreiter übersetzen die technischen Möglichkeiten in Unternehmenswachstum. So wuchs der Umsatz der KI-Giganten Amazon und Google in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten durchschnittlich um rund 30 Prozent pro Jahr. Das hört sich konstant an, bedeutet aber konkret, dass sich das Wachstum in absoluten Zahlen jedes Jahr beschleunigt hat, sodass beide Unternehmen 2018 um einen Betrag gewachsen sind, der dem Achtfachen ihres Gesamtumsatzes von 2004 entspricht. Grund genug, diese Unternehmen als „Exponentielle Organisationen“ (vgl. Ismail et al. 2014), kurz: ExOs zu bezeichnen. Ray Kurzweil, Director of Engineering bei Google, spricht sogar vom „Gesetz der sich beschleunigenden Erträge (Law of Accelerating Returns)“.
Für die meisten Menschen ist es ungeheuer schwer, diese Entwicklungen im Vorfeld zu verstehen, weil das menschliche Denken vom sogenannten „Exponential Growth Bias“ geprägt ist – von der Neigung, auch exponentiell verlaufende Entwicklungen zu linearisieren. So ist es einfach, einzuschätzen, wo man sich befinden wird, wenn man 20 gleich große Schritte von einem Meter machen soll – doch wo steht man, wenn sich die Schrittlänge bei jedem Schritt verdoppelt? Kaum jemand kommt intuitiv auf gut dreizehn Reisen um die Erde.
Für den co-kreativen Wettlauf in die Zukunft sind die Technologien also vorhanden – doch es fehlt in vielen Köpfen die Fähigkeit zum flexiblen Wechsel zwischen linearem und exponentiellem Denken. Ein Beginn ist gemacht, wenn im Unternehmen bewusst zwischen beiden Herangehensweisen unterschieden wird. Bei der Formulierung strategischer Ziele beispielsweise macht es einen Unterschied, ob man „auf Sicht fährt“ (linear) oder akzeptiert, dass langfristige Ziele heute noch nicht erkennbar sind (exponentiell).
Zu Beginn der Umsetzung bleiben exponentiell angelegte Projekte oft weit hinter linear gebildeten Erwartungen zurück. Umso mehr muss allen Beteiligten klar sein, dass sich die Streckenführung ändert. Auch Fortschritt wird dann anders gemessen: nicht mehr als Abweichung vom bekannten Ziel, sondern daran, ob die Bedingungen für einen Netzwerkeffekt geschaffen werden. Denn dann laufen alle mit – auch die KI.
Literatur:
Diamandis, P. (2019): 5 Coming Breakthroughs in Energy and Transportation
Finger, R. et al. (2019): Precision Farming at the Nexus of Agricultural Production and the Environment
Ismail, S. et al. (2014): Exponential Organizations. New York
Kurzweil, R. (2001): The Law of Accelerating Returns
Stango, V. und Zinman, J. (2009): Exponential Growth Bias and Household Finance
Van Valen, L. (1973): A New Evolutionary Law
Xiong, W. et al. (2016). Achieving Human Parity in Conversational Speech Recognition
Über den Autor

Dirk Nicolas Wagner ist Professor für Strategisches Management an der Karlshochschule International University in Karlsruhe und Geschäftsführer des Karlshochschule Management Instituts. Zuvor war er in Deutschland und Großbritannien in leitenden Positionen in der Industrie tätig. Seit den 1990er-Jahren beschäftigt Wagner sich mit Fragestellungen rund um das Thema Mensch und Maschine.