Wie lassen sich immaterielle Produktwerte sichtbar machen? Stijn Ossevoort über die von ihm entwickelte Produktgestaltungs-Methode der „Emotionalen Erfahrung“.
Von Stijn Ossevoort (12/2015)
Wie lassen sich immaterielle Produktwerte sichtbar machen? Stijn Ossevoort über die von ihm entwickelte Produktgestaltungs-Methode der „Emotionalen Erfahrung“.
Von Stijn Ossevoort (12/2015)
In der westlichen Gesellschaft sinkt das Interesse an materiellem Reichtum, während immaterielle, persönliche Werte an Bedeutung gewinnen. Für Unternehmen wird es deshalb immer wichtiger, die immateriellen Werte ihrer Produkte zu verstehen. Mit einem Wort: die Kundenerfahrung. Design, so zeigt sich immer deutlicher, ist das Kreieren von Sinn bzw. Sinnhaftigkeit – und die Essenz von Sinn liegt in unseren Erfahrungen.
Wie es aussieht, wenn Hersteller das Verständnis der wirklichen Produkterfahrung, verlieren, belegt das Beispiel Polaroid. Das Unternehmen hatte den Markt für Sofortbild-Kameras seit ihrer Entwicklung 1937 dominiert. Als die Verkaufszahlen im Zuge der Verbreitung von Smartphones rasant zurückgingen, ersetzte Polaroid seine berühmten analogen Sofortbild-Kameras durch digitale Versionen. 2008 wurde auch die Produktion der Filmkartuschen eingestellt, zum großen Bestürzen der Kunden: Millionen von Kameras waren plötzlich unbrauchbar.
Anschließend verkaufte Polaroid die überschüssigen Produktionsflächen – mit einer Ausnahme: eine eine Fabrik in den Niederlanden, die aufgrund des stagnierenden Immobilienmarkts nicht verkauft werden konnte. Da sich das gesamte Produktions-Equipment noch in der Fabrik befand, startete eine kleine Gruppe ehemaliger Mitarbeiter die Filmkartuschen-Produktion kurzerhand neu. Unter dem Motto “Das unmögliche Projekt” wurde zunächst die Produktion von Schwarz-Weiß-Kartuschen reanimiert und später auch eine Farbfilm-Kartusche entworfen. Eine Entwicklung, die in naher Zukunft eine neue Generation analoger Sofortbild-Kameras ins Leben rufen könnte. Inzwischen gibt es diverse Firmen, die den Kult um “Polas” wieder aufleben lassen, etwa über tragbare Drucker, die Smartphone-Bilder via Screenshot direkt im Polaroid-Format ausdrucken.
Was hatte Polaroid falsch gemacht? Das Unternehmen hatte es versäumt, den immateriellen Wert seines Produktes zu erkennen: Ein Foto mit einer analogen Kamera zu machen, ist nicht dasselbe wie mit einer digitalen. Fotos auf analogen Kameras können nicht verändert werden, sie sind echte Originale und geben damit einen einmaligen Eindruck von Ehrlichkeit und Authentizität – etwas, das eine digitale Kamera nicht leisten kann. Immer wichtiger wird es deshalb, die Wert-Erfahrung in das strategische Handeln und Gestalten miteinzubeziehen. Ein Prozess, der genau darauf abzielt, ist das Empathische Design.
Um Produkterfahrungen zu verstehen, kreieren Designer, Brand- und Produktmanager fiktionale Nutzer, auch Personas genannt. Auf Basis von Alltagsbeobachtungen, speziellen Aufgaben und gesammelten Daten werden Storyboards entwickelt, die mögliche Produkterfahrungen aufzeigen. Diese Personas bleiben jedoch häufig oberflächliche generalisierte Interpretationen eines Nutzers. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Wäre es nicht effektiver, die Nutzer zu bitten, eine Personifizierung des Produktes vorzunehmen, um das Verständnis der Produkterfahrung zu erhöhen? Dieser Gedanke führte zur Entwicklung einer neuen Methode: der “Emotionalen Erfahrung“. Sie soll die Produkterfahrung für die Produktentwicklung zugänglich machen.
Um die Effektivität der Methode zu testen, entwickelten mein Kollege Michael Doerk und ich ein Pilotprojekt. Wir baten unsere Studierenden, sich an Produkte ihrer Kindheit zu erinnern, die einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatten. Die meistgenannten Produkte waren entweder tragbare Gegenstände (Kleidung, Taschen, Gameboys, Tamagotchis, Walkmans oder Kontaktlinsen) oder Transportmittel (Autos, Skateboards, Snowboards, Fahrräder oder Schuhe). In einem ersten Workshop schrieben die Studierenden die Gefühle nieder, die ihre genannten Gegenstände in ihnen hervorriefen. Anschließend wählten sie in kleinen Gruppen einen Gegenstand aus. Dieser wurde im ersten Schritt in eine Persona umgewandelt, anschließend wurde ein Setting als Ausgangsposition für die Geschichte des jeweiligen Gegenstandes entwickelt. Diese Geschichten wurden solange von Gruppe zu Gruppe weiter gegeben, bis die essenziellen Gefühle noch immer da waren, aber keine Spuren vom Ausgangsprodukt mehr gefunden werden konnten. Der Auszug der folgenden Geschichte beschreibt die emotionale Verbindung zu einem Wintermantel:
“Eine alte Frau schaut im Winter aus dem Fenster. Sie sieht die mit Eis überfrorene Straße, während sie ein Abendessen für ihre Enkel zubereitet. Sie freut sich sehr, die Enkel wiederzusehen und möchte gern die beste Gastgeberin der Welt sein. Plötzlich bemerkt sie, dass sie eine wichtige Zutat vergessen hat. Sie fühlt Stress in sich aufsteigen, denn nun muss sie in den kalten Winter hinausgehen, um die Zutat zu kaufen…”
In einem zweiten Workshop erhielten die Studierenden, nun in Gruppen von vier bis acht Personen, eine der Geschichten, welche die Grundlage für eine kleine Design Challenge bildet: Ein Seifenprodukt sollte kreiert werden. Die Studierenden wurden gebeten, sich nicht auf Form, Geruch oder Farbe zu beschränken, sondern auch Verpackung und einen Marketingplan in ihr Design einzubeziehen. Zwei Beispiele der kreierten Produkte sind die “Savon 1890”, eine einfache altmodische handgemachte Seife mit ehrlicher, unkomplizierter Verpackung und die “Seife Crystals”.
1997 führten Jeffrey F. Rayport und Dorothy Leonard das Empathische Design als ein Set von Techniken ein, die es Unternehmen ermöglichen, “der Stimme des Kunden zuzuhören”. Der empathische Designprozess erlaubt es Designern, eine Situation aus dem Blickwinkel des Nutzers zu untersuchen und somit – anders als traditionelle Marktstudien – wichtige (bis dahin unbekannte) Produktinformationen aufzudecken:
1. Unerwartete Verwendung des Produkts
2. Bestimmte Bedingungen, unter denen Kunden das Produkt benutzen
3. Anpassung an Kundenwünsche
4. Produkterfahrung (immaterielle Attribute)
5. Unausgesprochene Nutzerbedürfnisse
Inzwischen hat sich emphathisches Design zu einem üblichen Prozess für Produktinnovation entwickelt. Es gibt viele Tools für ethnographische Designforschung, mit deren Hilfe Designer und Entwickler die Nutzung von Produkten in Alltagssituationen beobachten können. “Third Age Suit” erlaubt es beispielsweise Produktentwicklern und -designern, den begrenzten physischen Zustand der Nutzer zu erfahren.
Diese Methode wurde insgesamt viermal mit insgesamt 60 Studierenden getestet, dabei wurden zwölf verschiedene Seifen-Konzepte designt. Die Vielzahl der Ergebnisse zeigt, dass Emotionen eine großartige Inspirationsquelle für Produktdesigns sind: Die Methode ermöglicht Entwicklern, Produkte mit ausreichend immateriellen Attributen zu kreieren und so die Erfahrung zukünftiger Nutzer zu antizipieren.
Nach P.M.A. Desmet and P. Hekkert gibt es drei Klassen von Produktemotionen, welche die Wahrnehmung von Produkten als ein Objekt, einen Agenten oder ein Ereignis ermöglichen. In unserem Fall waren Emotionen, die direkt mit einem Objekt verbunden waren, die hervorstechende. Diese Emotionen beziehen sich auf den Geschmack oder einen bestimmten Reiz eines Produktes. Dieser Reiz basiert auf der Haltung, die durch seine ästhetische Erscheinung entsteht, durch eine persönliche Beziehung oder eine soziale Klassifikation.
Letztlich macht die Methode der “Emotionalen Erfahrung” deutlich, dass Emotionen in neue Produkte transferiert werden können. Sie eröffnet somit einen Weg, um Geschichten für das Identifizieren von Emotionen zu nutzen – die dann wiederum zum Trigger für neue Erkenntnisse werden können.
Stijn Ossevoort arbeitet seit 2009 an der HSLU als Dozent und Forscher im Bereich Produktdesign. Zudem ist er Kernteammitglied des Zukunftslabors CreaLab der Hochschule Luzern. Ossevoort studierte Industriedesign an der TU Delft und machte seinen zweiten Master in Design Products am Royal College of Art (London). Später arbeitete er u.a. für Ron Arad, Philips und Prada und war Gastprofessor am Central Saint Martins College in London.