Die Zukunft der unternehmerischen Wertschöpfung

In Sachen Wertschöpfung und Wohlstand steht ein Paradigmenwechsel bevor – was bedeutet das für Unternehmen? Dr. Roland Zieschank, Projektleiter am Forschungszentrum für Umweltpolitik, über zukunftsweisende Indikatoren jenseits des BIP. – Ein Auszug aus der Studie Next Growth.

Bild: Unsplash/Jed Owen

In den vergangenen Jahren hat sich in Deutschland wenig geändert im Umgang mit der zentralen Größe des Wirtschaftssystems, dem Bruttoinlandsprodukt. Methodisch ist das BIP zwar einige Male angepasst worden, aber bei gleichbleibender Einschätzung seitens der Politik und der Wirtschaft: Mehr Wachstum bedeutet mehr persönlichen und gesellschaftlichen Wohlstand und signalisiert eine bessere Position im Konzert der globalen Wettbewerber.

In Deutschland weitgehend unbemerkt, zeichnet sich jedoch im internationalen Rahmen ein Paradigmenwechsel in Sachen gesellschaftlicher Wertschöpfung ab, etwa in Form einer anhaltenden Diskussion um alternative Wohlfahrtskonzepte. Zentraler Meilenstein war die 2007 von der EU und weiteren hochrangigen internationalen Institutionen durchgeführte Konferenz „Beyond GDP“. Expliziter Ausgangspunkt war und ist die Erkenntnis, dass in den volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen und ökonomischen Modellen eine „doppelte Externalisierung“ stattfindet: Das BIP enthält keine Aspekte der ökologischen Belastung und der monetären Folgeschäden. Das BIP berücksichtigt keine natürlichen Vermögenswerte – die eine wichtige Basis für die jährlichen Bilanzierungen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eines Landes bilden. Zudem ist dem BIP eine „soziale Gleichgültigkeit“ zu attestieren: BIP-Steigerungen führen in den meisten Staaten letztlich zu einer wachsenden Ungleichheit. Dies stellen selbst der IWF oder die Beratungsfirma McKinsey fest.

Korreliert man die Kurve der weltwirtschaftlichen Entwicklung mit dem globalen Ressourcenverbrauch sowie mit der Degradierung von Ökosystemen, kommt man um eine Erkenntnis nicht herum: Das „Naturkapital“ schwindet. Und mit etwas Nachdenken wird offensichtlich, dass dieses natürliche Potenzial – natürliche Ressourcen, intakte Landschaften, Artenvielfalt – faktisch Bestandteil eines umfassenderen Verständnisses von gesellschaftlicher Wohlfahrt ist. Dies schließt auch soziale und persönliche Fähigkeiten ein, etwa Bildung, soziales Vertrauen und angemessene Einkommensverteilung.

In Teilen der Ökonomie und in der wirtschaftlichen Berichterstattung auf internationaler Ebene wird deshalb intensiv über den Stellenwert von Natur und Naturkapital diskutiert. Wegweisend sind dabei die Veröffentlichungen der internationalen Initiative TEEB (The Economics of Ecosystems and Biodiversity) sowie die umfangreichen Bilanzierungen des Naturkapitals durch das britische National Capital Committee.

Neue Indikatoren für Unternehmen

Auch viele große Beratungsunternehmen verorten das Thema der betrieblichen Wertschöpfung inzwischen in einem verantwortungsvolleren Kontext. KPMG beispielsweise geht davon aus, dass über elf wirtschaftliche Sektoren hinweg weltweit mit jedem verdienten US-Dollar rund 41 Cent an Umweltschäden produziert werden – und versucht nun, gesellschaftliche Auswirkungen auf Unternehmensergebnisse zu beziehen.

Konkret empfiehlt KPMG Unternehmen, sich auf global wirkende Megatrends einzustellen, um sowohl mögliche Gefährdungen von Vermögenswerten als auch Chancen für einen Beitrag zu Nachhaltigkeitszielen frühzeitig zu erkennen. Auf Basis externer Effekte – ökonomisch, sozial und ökologisch – werden die Auswirkungen künftiger Investitionen und Aktivitäten des Unternehmens abgeschätzt. Die unternehmerische Wertschöpfung wird dann verglichen mit dem gesellschaftlichen Wert jeder Investition – die somit auch negativ ausfallen kann. Ähnlich äußern sich andere Beratungseinrichtungen wie Deloitte.

Bemerkenswert ist, dass die Politik nun von Unternehmensseite aufgefordert wird, sich mit Indikatorensystemen zu befassen, die über das BIP hinausgehen. Beispiele dafür gibt es viele – etwa der Better Life Index der OECD, der Genuine Progress Indicator in den USA, der Gross National Happiness Index von Bhutan, der Social Progress Index oder der Canadian Index of Wellbeing. Für Deutschland kann auch der Nationale Wohlfahrtsindex erwähnt werden – der unter Einbeziehung ökologischer Schäden und ungleicher Einkommensverteilung ebenfalls zur Schlussfolgerung eines „illusionären Wohlstands“ kommt.

Wertschöpfung ganzheitlich bilanzieren

Wie lassen sich diese Perspektiven mit der Unternehmensebene verknüpfen? Die EU-Politik sieht eine Chance im Natural Capital Accounting (NCA): Diese nationalen und internationalen Bilanzierungen zur Erfassung von Naturkapital seien eine gute Grundlage für Firmenberichte und Bilanzierungen zum Umgang mit Natur: für die Transformierung von Firmenplänen und -strategien, die Unterstützung des Risikomanagements und die Identifizierung neuer Investmentmöglichkeiten mit Bezug zu natürlichen Kapazitäten. Staatliche NCA können auch helfen, Vorgaben zu Umwelt- oder Nachhaltigkeitsberichten besser mit nationalen Gesamtrechnungen und Berichten abzustimmen. In beiden Fällen zielen die neuen Bilanzierungen darauf ab, Umwelt und Wirtschaft als ein einziges, integriertes System zu betrachten.

Sehr hilfreich für neue Bilanzierungsformen von Unternehmen sind die Arbeiten der Natural Capital Coalition, einer Initiative und Wissensplattform, die internationale und unternehmerische Aktivitäten verknüpft. Das „Natural Capital Protocol“ ermöglicht es Unternehmenden seit Frühjahr 2018, sich ein methodisch verlässliches und glaubwürdiges Informationssystem aufzubauen, das Interaktionen mit der Natur erfasst, dokumentiert und bewertet.

Das „Natural Capital Assessment“ liefert zudem ausführliche Begründungen, warum eine solche Naturkapitalbewertung durchgeführt werden sollte. Eine der zentralen Schlussfolgerungen lautet, dass die Natur künftig gleichfalls als Produzent für gesellschaftlichen Reichtum (und umfassender: für gesellschaftliche Wohlfahrt) gesehen werden muss. Ausgaben für eine intakte Natur und funktionierende Ökosysteme sind daher nicht automatisch Kosten, sondern vielmehr Investitionen – ähnlich wie in Industriegüter oder Bildung.


Über den Autor

Roland Zieschank ist Projektleiter am Forschungszentrum für Umweltpolitik der
FU Berlin. Zuvor war er unter anderem für das Umweltbundesamt und das Wissenschaftszentrum Berlin tätig. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen alternative Wachstumskonzepte sowie die Entwicklung nationaler Umweltindikatoren und Nachhaltigkeitsstrategien.


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