Technologische und menschliche Intelligenz begegnen sich künftig auf Augenhöhe – Unternehmen müssen lernen, eine nachhaltige Datenexpertise auf- und auszubauen.
Von Franz Kühmayer (10/2016)
Technologische und menschliche Intelligenz begegnen sich künftig auf Augenhöhe – Unternehmen müssen lernen, eine nachhaltige Datenexpertise auf- und auszubauen.
Von Franz Kühmayer (10/2016)
Die rasante Digitalisierung bedeutet für Unternehmen nicht nur, Strukturen und Organisationsformen zu hinterfragen. Sie hat vor allem auch einen tiefgreifenden Wandel in der Personalpolitik zur Folge. Smarte Fabriken brauchen smarte Mitarbeiter. Bei aller Wichtigkeit von realer Produktion – die Digitalisierung zeigt vor allem in eine Richtung, in der das algorithmische über das physikalische Prinzip hinausreicht. So wie in der IT-Abteilung die Cloud den Serverraum ersetzt, werden künftig alle Bereiche des Unternehmens von Software dominiert sein. Nicht die Maschine an sich stellt den Wert im Anlagevermögen dar, sondern das, was sie zu leisten imstande ist.
In der Konsequenz gilt daher branchenunabhängig: Jedes Unternehmen wird zum Software-Unternehmen – und jeder Mitarbeiter zum Knowledge Worker. Schon jetzt verbergen sich hinter den 25 Prozent Arbeitnehmern in der deutschen Industrie vor allem Ingenieure, Entwickler, Prozessexperten und Automatisierungsspezialisten. "Die Industrie ist in Deutschland deshalb so erfolgreich und innovativ, weil sie längst Wissensarbeit ist, sie ist sogar ihr harter Kern", schreibt Wolf Lotter über die Industrie 4.0.
Digitale Kompetenzen im Unternehmen auszuprägen und die Organisation datenfit zu machen, wird allzu oft an die IT-Abteilung delegiert. Auf den ersten Blick logisch: Wenn Informationen als Goldgrube für Unternehmen gelten, kommt dem CIO die zentrale Aufgabe zu, den Wissensschatz der Firma zu heben. Doch das ist offenbar schwerer, als man annehmen würde. Denn das I in CIO steht für Information, nicht für Technologie – und das scheinen manche CIOs über ihrer Begeisterung für Hardware, Software, Clouds und Devices gelegentlich zu vergessen.
Auch der anhaltende Fokus der IT-Abteilungen auf Effizienzsteigerungen und Senkung ihrer eigenen Kosten zielt an der zentralen Aufgabenstellung vorbei. Unter dem Begriff KTLO ("Keeping The Lights On") fassen Experten die systemerhaltenden Aktivitäten der IT-Abteilung zusammen und mahnen seit langem, den hohen budgetären und zeitlichen Fokus zu senken. Bis zu 85 Prozent der IT-Budgets sind dafür in Unternehmen vorgesehen – hier sind die Prioritäten klar falsch gesetzt. "IT spends the majority of its budget to keep the lights on in the house – but nobody is at home anymore", kommentiert Derek Britton vom Softwareunternehmen Micro Focus.
Dabei ist ein Information Officer, der seiner Rolle gerecht wird, mehr denn je gefragt. Nur besteht seine Hauptaufgabe nicht mehr darin, bereits getroffene strategische und operative Entscheidungen in Technologie zu übersetzen, sondern umgekehrt: Daten und Informationen zu strategischen Assets des Unternehmens werden zu lassen. Der zunehmende Vernetzungsgrad zwischen Business und IT schafft neue Berührungspunkte für IT-Abteilungen – und verändert das Anforderungsprofil an IT-Mitarbeiter. Sie müssen künftig verstärkt problem- und businessorientiert arbeiten in interdisziplinären Teams, mit Kollegen aus dem Vertrieb, Marketing und anderen Bereichen. Für IT-Spezialisten sind daher Medienkompetenz, Wirtschaftserfahrung, Teamorientierung, Kommunikationsfähigkeit und Sozialkompetenz ebenso wichtige Voraussetzungen geworden wie exzellente Fachkenntnisse.
Andererseits ist auch die Digital-Kompetenz künftig nicht mehr in der IT zentralisiert, sondern über das gesamte Unternehmen verteilt. Dafür brauchen Unternehmen qualifizierte Mitarbeiter mit Big-Data-Kenntnissen. Die Unternehmensberatung Capgemini hat festgestellt, dass der Mangel an diesen Experten die größte Hürde für die Digitalisierung von Unternehmen im deutschsprachigen Raum ist.
Noch vor wenigen Jahren hielten nur Spezialunternehmen im Softwarebereich nach Data Scientists Ausschau, inzwischen brauchen Betriebe immer öfter Experten für Datenanalyse. Data Scientists sind jedoch keine IT-Experten, sondern eher seltene Allrounder aus Hacker, Analyst, Kommunikator und Berater. Ihre Aufgabe liegt vielfach nicht so sehr darin, Antworten zu finden, als vielmehr die richtigen Fragen zu stellen: Welche Daten müssen miteinander verknüpft werden, um das Nachfrageverhalten unserer Kunden zu bestimmen? Wie lassen sich Menschen, Gegenstände und Software zu neuen, intelligenten Netzwerken verbinden? Erst wenn technische und wirtschaftliche Kompetenz auf soziale Intelligenz trifft, entsteht ein Mehrwert.
Die herausragendste Eigenschaft des Data Scientists liegt im Wort "Scientist" begründet. Anders als etwa Data-Management-Experten, die hervorragend darin ausgebildet sind, Struktur und Organisation in Daten zu bringen, treiben Data Scientists zunächst scheinbar ziellos in einem Ozean von Daten. Aus der Kombination reichhaltiger Datenquellen formen sie Thesen und Modelle und stellen diese auf den Prüfstand. Für Führungskräfte ist das Managen von Data Scientists keine leichte Aufgabe: Wissenschaftler gedeihen nicht an der kurzen Leine. Sie brauchen Freiräume zum Experimentieren und zum Erkunden auch unwahrscheinlicher Möglichkeiten. Die Pfade, die sie einschlagen, erschließen sich oft erst auf den zweiten oder dritten Blick, und nicht selten bleiben sie auch fruchtlos.
Dennoch ist der Wert von Data Scientists für die Zukunftssicherheit von Unternehmen unbestritten. Die "Harvard Business Review” erkor den Beruf sogar zum "Sexiest Job of the Century". An der Johannes Kepler Universität Linz gibt es seit Kurzem einen Master-Studiengang mit Schwerpunkt "Business Intelligence and Data Science", vergleichbare Ausbildungen werden auch an der ETH Zürich angeboten. Denn die Nachfrage nach Data Scientists ist hoch.
Ein möglicher Entwicklungspfad für Unternehmen, die sich kaum oder noch nicht mit der Digitalisierung auseinandergesetzt haben, ist die Einrichtung von Big Data Labs. In einem solchen interdisziplinär besetzten, internen Forschungsteam lernen Firmen mit Daten zu experimentieren und Modelle zu entwickeln. Solche Labs schaffen eine Umgebung, in der sich Mitarbeiter den Umgang mit neuen Datenquellen und die Fähigkeiten bei der Nutzung der dazugehörigen Analysewerkzeuge aneignen und in einer Laborsituation neue Fragestellungen testen können. Die Mitarbeiter erwerben so, quer durch die Abteilungen, Kenntnisse und Kompetenzen im Umgang mit Big Data.
Die Digitalisierung bringt neue Spezialisten-Jobs hervor, aber vor allem ist sie ein Weckruf für die gesamte Belegschaft. Um die Macht der Daten zu nutzen, dürfen Analysekenntnisse nicht nur auf einen engen Kreis von Business-Intelligence-Power-Usern beschränkt sein. An die Stelle der Daten-Expertokratie tritt eine datenaufgeklärte Digitaldemokratie. Big Data ist keine Technologie mehr, die von wenigen beherrscht wird, sondern eine Kulturtechnik für alle. Diese Einsicht beginnt sich durchzusetzen: Laut dem "BI Survey" gewährten 2014 immerhin 55 Prozent der Unternehmen weltweit ihren Mitarbeitern im Fachbereich mehr Freiheiten bei der Gestaltung von Berichten und Analysen – Stichwort Self Service Business Intelligence.
Marketing, Vertrieb oder Innovationsabteilungen profitieren künftig also von einer höheren Flexibilität im Datenzugriff und dem interdisziplinären Austausch mit anderen Abteilungen. Die Erhebung, Weitergabe, Verknüpfung und Nutzung von Daten in Unternehmen eröffnet ein weiteres Feld: Verantwortung. Denn die Autonomie in den Fachabteilungen stellt Big Data in ein Spannungsfeld aus restriktiver Governance und chaotischer Anarchie. Auf der einen Seite stehen formelle Auflagen, beispielsweise an Datenintegrität, Datenschutz, Vertraulichkeit und Sicherheit, auf der anderen Seite die Vorteile, die hohe Freiheitsgrade und Agilität versprechen. Zum souveränen Beherrschen der Digitalisierung zählt künftig auch der verantwortungsvolle Umgang mit bereitgestellten Daten.
Visuelle Datenverarbeitung erlaubt es, Datenbestände explorativ zu erkunden und Zusammenhänge durch kontextabhängige Darstellungen leicht zu erkennen; Sprachinterfaces gestatten die Formulierung von Fragestellungen in normalen deutschen (oder englischen) Sätzen; technische Hilfsmittel wie Smart Glasses erlauben den Zugriff auf Expertenwissen. Dieser vereinfachte Zugang zu digitalen Informationen senkt jedoch nicht die Qualifikationsanforderungen an Mitarbeiter. Im Gegenteil: Neue Aufgaben werden relevant, bewährte Arbeitsmuster verändern sich. Die Digitalisierung verlangt zunehmend neue Schlüsselqualifikationen, zusätzlich zum Fachwissen und persönlichen Skills.
Zu den Schlüsselqualifikationen der Digital Workforce zählen:
Gleichzeitig führt die Digitalisierung von Unternehmen auch zu mehr automatisierten Prozessen. Laut einer Umfrage von Expert Market in Großbritannien hätte etwa die Hälfte aller Manager kein Problem damit, statt eines Menschen einen Roboter einzustellen. Und auch der Wunsch nach einem "objektiven" Chef ist vorhanden: Haben Menschen die Wahl, lassen sie sich einer Studie des MIT zufolge lieber von Robotern Arbeitsanweisungen erteilen als von anderen Menschen. Mitarbeiter seien nicht nur produktiver, sondern auch zufriedener, wenn sie Befehle von Maschinen erhielten – sie sagten sogar, sie hätten das Gefühl, der Roboter habe sie "besser verstanden" als der menschliche Chef. Roboter können nicht nur mechanische Aufgaben in der Fertigung übernehmen, sondern auch Arbeitsabläufe koordinieren und planen. Wenn es um Management-Aufgaben geht, sind Programme bereits in der Lage, den Chef zu ersetzen.
Hinter dem Schlagwort "People Analytics" verbirgt sich eines der kontroversesten Themen, die derzeit in der HR-Szene diskutiert werden. War bislang die Leistungsfeststellung und Potenzialbeurteilung von Mitarbeitern eine der wichtigsten Aufgaben von Führungskräften, könnten schon sehr bald Computer diese heikle Aufgabe übernehmen. Die entsprechenden Systeme tragen die enorme Fülle an digitalen Spuren, die Mitarbeiter hinterlassen, zusammen und erstellen ein nahezu lückenloses personenbezogenes Dossier. Für die Auswertung durch People-Analytics-Programme sind dabei nicht nur leistungsbezogene Daten nutzbar – wie etwa Umsatzlisten oder Zielvereinbarungsdokumente –, sondern auch qualitative Daten. Interessant sind insbesondere interne Kommunikations- und Kollaborationssysteme wie E-Mail oder Intranet. Dabei kann untersucht werden, wie eng die einzelnen Unternehmensbereiche miteinander vernetzt sind, wie hoch der Wissenstransfer tatsächlich ist und wo die Meinungsbildner und Experten im Unternehmen zu finden sind.
Dabei stoßen Unternehmen mitunter auf erstaunliche Prozessverbesserungen: Die Bank of America hat mittels People Analytics beispielsweise die Performance und Personalstruktur ihres Callcenters untersucht. Die Software kam zum Ergebnis, dass andere Pausenpläne die Kommunikation zwischen den einzelnen Abteilungen verbessern würden; das Resultat war eine 23-prozentige Effizienzsteigerung und 15 Millionen Dollar Kosteneinsparung.
An eines müssen wir uns jedenfalls gewöhnen, egal ob als Führungskraft, Mittelmanager oder Mitarbeiter: Computer sind künftig nicht nur Werkzeuge unseres Handelns, sondern werden zu Kollegen. Mit zunehmender Intelligenz der Software und damit reichhaltigeren Anwendungsgebieten für Algorithmen und Cyberware löst sich auch das hierarchische Verhältnis auf, das zwischen menschlichem Mitarbeiter und künstlichem Werkzeug noch besteht. In Zukunft ist nicht mehr der eine der logische Anwender des anderen, sondern beide arbeiten symbiotisch zusammen – als Kollegen in der digitalen Workforce von morgen.
Dieser Text ist ein bearbeiteter Auszug aus Franz Kühmayers Leadership Report 2016.