Zukunftsforscher Matthias Horx über die zunehmende Abwehrreaktion gegen den allgegenwärtigen Zwang der Vernetztheit
„Digitale Revision“: Die neue Offline-Sehnsucht

Vor fünf Jahren prognostizierten wir einen Trend wie blasphemische Nörgelei: „Digitaler Backlash“, Internet-Skepsis und Offline-Sehnsucht. Jetzt ist sie da, die „Digitale Revision“. Facebookzahlen gehen zurück. Menschen überprüfen ihr Amazon-Abo und Smartphone- Verhalten. Beliebteste Zeitgeist-Worte sind nicht mehr „Vernetzung“ und „Echtzeit“, sondern „Achtsamkeit“ und „Entschleunigung“. Wir reiben uns die Augen: Sind Apple, Google, Facebook keine Welt-Erlöser, sondern die skrupellosen Monopolisten von morgen?
Mit der NSA hat das nur am Rande zu tun. Es geht um das Wesen der Digitalität. Henryk M. Broder beschrieb das Internet so: „Einerseits Tummelplatz für Exhibitionisten und Voyeure, andererseits ein Raum der Menschen am Rande des narzisstischen Zusammenbruchs Diskretion. Man kann alles mit allen teilen – ohne sich zu kennen.“ Weil das leibhaftige Gegenüber nicht mehr existiert, kann man jeden konsequenzlos beleidigen. Die Folge ist der Shitstorm, zu dem öffentliche Debatten verkommen. Digitale Demokratie? Die Piraten führen vor, wie eine ständige „liquid democracy“ aussehen würde: Alle quatschen durcheinander und meinen, etwas meinen zu müssen, jeder am Rande des narzisstischen Zusammenbruchs.
Falsche Versprechen, verkleidete Tugenden
Auch das Kern-Versprechen, Freisetzung von Kreativität, kann das Internet nicht wirklich liefern. David Brooks: „Das Problem mit dem gesteigerten Tempo der Information ist, dass es die Kreativität unterminiert. Kreativität ist das, was nebenbei passiert. Digitale Technologien zwingen uns zu ständigen Reaktionen, einem ewigen Kreislauf von Content, der uns immer im Kreis herumfahren lässt.“
Der Publizist Evgeny Morozov brachte es in seinem erfolgreichen Buch „To save everything, click here“ auf den Punkt: Grundhaltung des Digitalzeitalters sei Solutionismus, vulgo „Verbesserungswahn“. Man sucht verzweifelt nach Problemen, die man mit digitalen Mitteln lösen muss. Aber diese Probleme sind entweder tief im Menschlichen „hardwired“; sie zu lösen würde uns keinen Gefallen tun. Oder sie sind so marginal, dass man mit Kanonen auf Spatzen schießt. Ineffizienz, Ambivalenz und Undurchsichtigkeit – alles, was das revolutionäre Internet bekämpfen will – sind „Tugenden in Verkleidung“. Morozov fragt in humanistischer Skepsis: Cui bono?
Die segensreiche Kraft des Zweifels
Es ist absehbar, das Google Glass zum Stalingrad der digitalen Revolution werden kann: Eine „solutionistische“ Technik, die spaltet, ungeheure negative Emotionen provoziert. Werden Es ist absehbar, das Google Glass zum Stalingrad der digitalen Revolution werden kann wir uns von den Verführungen des Digitalen abwenden und reumütig zum „meatspace“ zurückkehren, dem Raum fleischlicher Analogität? Ach was! Technologien entwickeln ihren Wert durch Kämpfe und Krisen, durch humane Adaptionen. So geht Zukunft: Vermeintliche Revolutionen transformieren sich in humane Evolutionen. Durch die segensreiche Kraft des Zweifels.