Cyber-Humanismus: Digitale Ermächtigung

Digital Literacy beinhaltet mehr als nur technologische Skills: Im digitalen Umfeld müssen Individuen zahlreiche kognitive, emotionale und soziale Kompetenzen erlernen, um Informationen adäquat zu verarbeiten. Cyber-Humanismus beschreibt diesen ganzheitlichen Ansatz: ein umfassender, optimistischer Umgang mit dem Digitalen. Ein Auszug aus der neuen Studie "Digitale Erleuchtung".

Von Carl Naughton

Google liegt falsch. Zumindest, was das Verständnis von Digital Literacy angeht. Laut Carol Smith, die bei Google das Open-Source-Programm "Summer of Code" leitet, bedeutet Digital Literacy das Grundverständnis, wie mit einem Computer beziehungsweise mit Applikationen auf dem Computer interagiert werden kann – und vor allem: wie er das macht, was der Nutzer will. Ein (zu) eng gefasstes Verständnis von "digitaler Kompetenz", das stark dazu beiträgt, dass wir uns derzeit in einer Phase der Digitalhysterie und der digitalen Ohnmacht befinden.

Eine Studie der Leipziger AKAD University mit 20.000 Büroarbeitern zeigte: Im Schnitt verbringt jeder Mitarbeiter einen ganzen Arbeitstag pro Woche allein mit der Bearbeitung und Beantwortung von E-Mails. 84 Prozent empfinden ihre Arbeitsleistung als hoch – und gleichzeitig als unzureichend, Wir brauchen einen cyberhumanistischen Paradigmenwechsel: von Technik zu Pädagogik um dem digitalen Kommunikationsrauschen standhalten zu können. Digitale Ohnmacht.

Wie lässt sich die digitale Überforderung in einer erodierenden Arbeitswelt eindämmen und konstruktiv bewältigen? Das beste, wenn nicht einzige Mittel, ist ein umfassendes, ganzheitliches Verständnis von Digital Literacy. Und das bedeutet zugleich: ein neuer Cyber-Humanismus.

Die Konsequenzen einer fehlenden Digital Literacy verglich McKinsey bereits 2014 mit der Wirkmacht einer permanenten Rezession: Die Kluft zwischen dem, was Jobs an digitalen Skills einfordern, und den tatsächlichen Fähigkeiten der Mitarbeiter verursacht gravierende ökonomische Schäden. 2015 untermauerten die Veröffentlichungen der Clinton Global Initiative America (CGI America) diesen düsteren Befund.

In ihrer sprichwörtlichen Lösungsorientiertheit stellen die Amerikaner diesem Umstand die "Future Edge Digital Literacy Challenge" entgegen. Mit einem kostenlosen "Digital Literacy Curriculum" sollen Gering- und Mittelverdiener digitale Fähigkeiten erlernen, die ihnen den Zugang verschaffen zu den "Middle-Skill Jobs" (Beschäftigungen, die über die schulische Ausbildung hinausgehen, aber kein Universitätsstudium verlangen). Die für die Fünfjahresinitiative bereitgestellten 150 Millionen US-Dollar mögen gering erscheinen angesichts des Ziels, mehr Amerikanern Chancen in der vernetzten Ökonomie zu eröffnen. Doch es ist ein sichtbarer Impuls in Richtung eines "Digitaloptimismus".

Eine Studie von Burning Glass Technologies und der Beratungsfirma Capital One zeigt: Middle-Skill Jobs in Management, Administration und Vertrieb verlangen zunehmend und branchenübergreifend eine Digital Literacy – und verdrängen Berufsfelder, die diese nicht benötigen. 78 Prozent der Middle-Skill Jobs erfordern digitale Skills. Diese Jobs machen 39 Prozent der gesamten Beschäftigungsverhältnisse in den USA aus, das Einkommen liegt hier 18 Prozent über dem Durchschnitt. Eine Erhöhung der Digital Literacy ist also eine große Chance für die 68 Prozent der US-Amerikaner, die über kein Bachelor Degree verfügen.

Auch in Europa werden zukunftsorientierte Unternehmen bei Recruitment, Training und Weiterbeschäftigung künftig auf die Unterstützung durch spezifische "Digital Educators" setzen müssen – als Grundbaustein einer vorausblickenden Strategie in einer vernetzten Ökonomie.

Eine entscheidende Voraussetzung ist dabei die Erkenntnis, dass Digital Literacy weit mehr bedeutet als nur eine Anzahl an technologischen Skills. Vielmehr ist sie synonym mit einem neuen Cyber-Humanismus, der eine Vielzahl kognitiver, motorischer, emotionaler und soziologischer Verhaltensadaptionen umfasst: Kompetenzen, die Menschen befähigen, in digitalen Umfeldern zu funktionieren.

Im Kern geht es dabei um einen komplexen Mix aus drei Grundkomponenten:

  • Wissen entwickeln
  • Sicherheit aufbauen
  • Aufmerksamkeit erzeugen

Diese Meta-Kompetenzen sind unabdingbar in einer Gesellschaft, die sich permanent auf mehreren Levels bewegt. Sie gehen einher mit einem cyberhumanistischen Paradigmenwechsel: von Technik zu Pädagogik. Und sie formieren sich ihrerseits aus sechs praxisrelevanten Facetten, die in der Studie ausführlich beschrieben werden:

  • Photo-Visual Literacy
  • Reproduction Literacy
  • Branching Literacy
  • Information Literacy
  • Socio-Emotional Literacy
  • Real-Time Thinking

Dieser Text ist ein Auszug aus der im September 2016 erschienenen Studie "Digitale Erleuchtung".

Dieser Artikel ist in folgenden Dossiers erschienen:

Megatrend Konnektivität

Megatrend Konnektivität

Der Megatrend Konnektivität beschreibt das dominante Grundmuster des gesellschaftlichen Wandels im 21. Jahrhundert: das Prinzip der Vernetzung auf Basis digitaler Infrastrukturen. Vernetzte Kommunikationstechnologien verändern unser Leben, Arbeiten und Wirtschaften grundlegend. Sie reprogrammieren soziokulturelle Codes und bringen neue Lebensstile, Verhaltensmuster und Geschäftsmodelle hervor.

Folgende Menschen haben mit dem Thema dieses Artikels zu tun:

Carl Naughton

Dr. Carl Naughton vermittelt als Keynote Speaker mit psychologischer Expertise das Mindset und die Zukunftskompetenzen für den Umgang mit Transformation.