Echtzeitstatistik: Faszination der lebendigen Zahlen

Echtzeit-Datenübertragung beschreibt die Welt in Zahlen. Diese Daten werden zu einem ästhetischen Muster, das auf faszinierende Art zu leben beginnt.

Quelle: Trend Update

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Der vermeintliche Höhepunkt der medialen Globalisierung ist die Übertragung von Geschehnissen und Daten in Echtzeit. Immer häufiger geschieht dies mithilfe reiner Zahlenästhetik. Die Zahl wird dabei zum Synonym für die Größenverhältnisse unseres Planeten. Sie zeigt die Dimension der Bevölkerungsexplosion, macht den unaufhaltsamen Kohleverbrauch deutlich und führt die grotesk hohe Anzahl der verhungernden Menschen pro Tag vor Augen.

„Live“ ist das Stichwort. Alles, was weltweit geschieht, scheint im Netz sofort verfügbar zu sein. Die Basis für die Faszination legen seit Langem die Sozialen Megazahlen machen die globalen Dimensionen unserer Vernetzung deutlich Netzwerke. Private Kommunikation auf Plattformen wie Twitter und Facebook lässt uns die Welt so nah und unmittelbar jetztzeitig wahrnehmen wie nie zuvor. Die Aktualität von Nachrichten, von Daten und Fakten wird scheinbar immer wichtiger – und die Taktzahl immer schneller. Den Anspruch, Information in ihrer reinsten und schnellsten Form verfügbar zu machen, erfüllen Realtime-Übertragungen von Zahlen am augenfälligsten. Megazahlen machen die globalen Dimensionen unserer Vernetzung deutlich und üben nicht nur deswegen eine wachsende Faszination aus. Sie geben uns das Gefühl der totalen Gegenwart.

Zahlen stehen in unserem Kulturraum seit Langem eher für Rationalität, für nüchterne und kühle Fakten mit keinem oder nur wenig interpretatorischem Spielraum. Diese Konnotation löst sich auf, sobald wir die Zahl aufgrund ihrer Komplexität oder Größe nicht mehr einordnen können. Wenn der Maßstab die Vorstellungskraft sprengt und sich kein geeignetes Gegenstück finden lässt, zu dem sie in Relation zu setzen ist. Genau das geschieht auch bei den Daten und Fakten, die unsere Welt mit Zahlen und nicht mit Worten beschreiben: Sie werden zu einem ästhetischen Phänomen, dessen Magie sich nur schwer beschreiben, aber unwillkürlich empfinden lässt.

Die Vermessung der Welt

Eines der ersten Beispiele: Seit 2004 hängt vor der Zentrale des Bundes für Steuerzahler in Berlin die Schuldenuhr, die die Staatsverschuldung in Echtzeit angibt. Echtzeit ist hier allerdings – wie auch in den Folgebeispielen – ein dehnbarer Begriff, denn Schuldenuhren gehen immer von Hochrechnungen aus – das heißt, sie gehen grundsätzlich falsch. Es geht in erster Linie aber auch nicht um die eurogenaue Anzeige der Verschuldung. Der Sinn besteht vielmehr in der Vermittlung eines Bewusstseins für die schier unglaubliche Höhe des Schuldenbergs. Sogenannte Count-ups werden schon seit Jahren als didaktische Mittel des Bewusstmachens für Bürger genutzt. Das „Smoking Deaths Billboard“ in L.A. zählt die nikotinbedingten Todesfälle in den USA seit 1987 jedes Jahr aufs Neue.

Factoids auf 130 Metern Länge

Die niemals endende Zahl Pi – sie wurde mittlerweile auf zehn Billionen Nachkommastellen berechnet – gibt der Medieninstallation des kanadischen Künstlers Ken Lum ihren Namen. Das in einem Wiener U-Bahn-Abgang verwirklichte Kunstprojekt stellt die Kreiszahl Pi inmitten von insgesamt Der Einzelne betrachtet die Zahlen und sieht sich dabei selbst gespiegelt. 16 Datensätzen in Echtzeit dar, die als Factoids bezeichnet werden. Auf einer Länge von 130 Metern sind unterschiedliche statistische Informationen auf spiegelnden Vitrinen abgebildet. Dem Betrachter werden die Hard Facts ernster Themen präsentiert, wie die weltweite Anzahl unterernährter Kinder oder die Zeit, die bis zur Wiederbewohnbarkeit Tschernobyls noch verstreichen muss.

Doch auch ironische Sujets wie die Zahl der gegessenen Schnitzel seit dem 1. Januar oder die der Verliebten in Wien kommen vor. Der Einzelne betrachtet die Zahlen und sieht sich dabei selbst gespiegelt. Er sieht sich also als Teil der Welt ganz allgemein und als Teil der Welt, die er gerade betrachtet. Die Passanten gehen durch den Korridor und gleichzeitig durch die Welten, deren statistisches Zahlenmaterial sie sehen.

Pi als Allegorie der Welt

Ken Lum spielt mit den Statistiken und Factoids, also den (Quasi-)Tatsachen, um mit den sich verändernden numerischen Angaben die nationalen wie internationalen Verhältnisse auf mathematische Art zu verknüpfen und die Welt damit zu beschreiben. Die „magische“ Zahl Pi ist hier universelles Symbol und steht für die globale Wahrnehmungsweise des Einzelnen im „begehbaren Newsroom“, der in Zusammenarbeit mit dem Institut SORA von außen stets mit neuem Informationsmaterial bespielt wird. „Die Zahl Pi ist einzigartig, weil sie eine unendliche Dezimalzahl ohne sich wiederholendes Muster ist. Dieser Teil (...) ist eine Allegorie der Welt. Der Kreis, auf den die Zahl Pi sich bezieht, steht symbolisch für die Welt und ihre sich unendlich verändernden Muster.“

Auf die Online-Welt adaptiert bedeutet das: Die sich millisekündlich erneuernden Daten und Fakten machen punktuelle Ereignisse und sonst so gewohnt statische Statistiken zu einem reißenden Informationsfluss. Die Megazahlen sind in erster Linie wegen ihrer Größe faszinierend, die Information, die sie uns liefern, wird in ihrer Redundanz unpersönlich und willkürlich.

Der Echtzeit-Kick

Über Big-Data-Mechanismen, also durch Generierung gigantischer und immer stärker ausdifferenzierter Datenwerte, lassen sich Informationen so vielfältig und genau wie nie zuvor erfassen und in der digitalen Welt darstellen. Auch wenn die Statistiken meist nur auf Hochrechnungen beruhen, sind sie Sinnbild für das wachsende Bedürfnis einer Always-on-Gesellschaft nach der multivisuellen Abbildung der Realität.

Die Internetseite Worldometers geht einen Schritt weiter und zeigt die aktuellen Kennzahlen der Erde an. Die optisch eher simpel gehaltene Homepage lockt nicht mit großer Visualisierung, sondern wirkt allein mit gigantischen Zahlen. Ein spannendes Gesamtbild, wie unsere Welt wirklich tickt Dabei werden Parameter wie Weltbevölkerung, Umwelt, Ernährung, Gesundheit, Regierung & Ökonomie oder Wasser & Energie abgedeckt. Der Sog des Echtzeit-Gefühls zieht den Besucher sofort in seinen Bann, wenn Zahlen jenseits jeder Vorstellungskraft untereinander aufgelistet nur so dahinrattern. Über sieben Milliarden Menschen leben momentan auf unserem Planeten, im Sekundentakt erneuert sich die Zahl. Den Gegenpol markieren die Todeszahlen, die sich ebenso kontinuierlich erhöhen. Die Aufteilung nach Geburten und Todesfällen im aktuellen Jahr gibt einen groben Überblick im Vergleich zu den Geburten und Todesfällen von heute: Der Unmittelbarkeitskick ist hier am größten. Dass die Zahlen wirklich in Echtzeit über den Bildschirm flimmern, ist in dieser Dimension unmöglich, die Werte sind nur das Ergebnis einer statistisch-mathematischen Hochrechnung. Und doch vermitteln sie den Eindruck eines spannenden Gesamtbildes darüber, wie unsere Welt wirklich tickt.

Twitter-Gewitter

Der Web-Seismograph Twitter ist den meisten allerspätestens seit den Unruhen in Iran bekannt. Und damit auch die Kraft, die hinter dem Kurznachrichtendienst steckt. Der französische Frontend-Entwickler Franck Erneweit hat mit seinem Projekt Tweetping nun die enorme Informationsflut, die sekündlich über Twitter generiert wird, in Echtzeit visualisiert. Tweetping zeigt in Echtzeit sämtliche Updates weltweit in einem einzigen Blitzen und Funkeln – die ganze Welt scheint permanent damit beschäftigt zu sein, sich mitzuteilen. Auf der Weltkarte liefern integrierte Counter Zahlen für alle fünf Kontinente, was zu sagenhaften 2400 Updates pro Minute führt. Ein Blitzlichtgewitter jagt das nächste. Alleine im Jahr 2012 wurden im Schnitt täglich 175 Millionen Kurznachrichten über Twitter verschickt.

Weltbevölkerungszuwachs live

Breathingearth illustriert die Geburten- und Sterberaten weltweit und zeigt außerdem die ständig wachsenden CO2-Emissionen an. Parallel dazu sieht der Besucher, wie die Zahl der Weltbevölkerung steigt, seit er auf der Website ist. Klickt man auf ein Land oder ein Gebiet auf der Weltkarte, zeigt ein Infofeld die jeweilige Geburten- und Sterberate an. In Russland beispielsweise sterben mehr Leute, als geboren werden. Die rückläufige Bevölkerungsentwicklung verdeutlicht die demografische Krise Russlands, bedingt durch geringe Geburtenraten, die europaweit niedrigste Lebenserwartung und die hohe Sterberate. Zusammenhänge werden dabei nicht dargestellt, die Visualisierung beschränkt sich ausschließlich auf die Zahlenspiele. Man hat das Gefühl, in Echtzeit dabei zu sein, wie die Welt sich dreht und wie sie atmet.

Skurrile Statistiken

Die Plattform Globometer liefert Statistiken in Echtzeit zu ernsten Themen wie der Fläche der abgeholzten Wälder, den an Krebs erkrankten Menschen oder den sexuellen Übergriffen weltweit. Doch sind auf der Website auch skurrile Informationen zu finden. Wen die Menge des Hundekots in Paris, die Zahl der McDonalds-Kunden seit Jahresbeginn oder die (erschreckend schnell in die Höhe schießende) Anzahl der Freier in Europa interessiert – der Globometer gibt Auskunft. Des Weiteren gibt es Zahlen zu den Einnahmen mit Sex Toys, dem Profit aus illegal gefangenem Thunfisch, den Opfern von Identitätsdiebstählen in den USA, der Anzahl der gezogenen Kokainlinien oder der Zahl der verkauften Fahrräder in Deutschland.

Die bloßen Zahlen stehen hier allerdings nicht für sich, denn zu jedem Subthema werden Zusatzinformationen geliefert – und mit weiteren Zahlen angereichert. So liegt die Anzahl an Lidschlägen jedes Einzelnen seit Jahresbeginn momentan (Stand 25. Februar 2013, 11:30h) bei 551.246 Schlägen. Klickt man auf einen nebenstehenden Infobutton, erscheint neben einem skizzierten Augen-Querschnitt mit entsprechender Beschriftung die Erklärung, dass wir durchschnittlich 20 Mal pro Minute und damit ca. 10.000 Mal pro Tag blinzeln. Die Homepage klärt den Besucher im Gegensatz zu vergleichbaren Portalen auch sofort über die Quelle der Daten auf, die in den Visualisierungen hochgerechnet werden.

Magie der bewegten Zahl

Nackte Zahlen gelten als unattraktiv und langweilig. Hohe Zahlen lösen dagegen eine enorme Faszination aus, besonders, wenn sie auch noch in Bewegung sind. Gerade bei Dingen, die unser Vorstellungsvermögen sprengen oder bei denen wir einfach den Überblick verloren haben. Das Ur-Prinzip der Realtime-Kurse im Aktienhandel wird von immer mehr Plattformen übernommen. In unserer globalisierten und vernetzten Welt ist die Generierung von Daten mittlerweile kein Problem mehr. Die Sehnsucht nach Vereinfachung und einem verhältnismäßig schlichten Erklärungsmuster wächst dagegen stark.

In der Pressemitteilung von Ken Lums Installation „Pi“ steht: „Kühl und sachlich gehalten, hebt sich die Installation als Einheit markant vom sonst üblichen, von Werbung und Zufälligkeit geprägten Formenvokabular einer Auch der visuelle Overkill verstärkt unser Bedürfnis nach Vereinfachung und Klarheit unterirdischen Passage ab.“ In der Aussage ist eine Erklärung für den Trend der Megazahlen in Echtzeit bereits enthalten. In unserer medial geprägten Informationsgesellschaft kämpfen wir täglich gegen Nachrichtenfragmente aus den unterschiedlichsten Medien an, deren Zusammensetzung zu einem Gesamtbild uns zunehmend schwerer fällt. Auch der visuelle Overkill verstärkt unser Bedürfnis nach Vereinfachung und Klarheit. Auch wenn Echtzeitstatistiken weder in Echtzeit ablaufen noch das Versprechen eines tieferen Verständnisses einhalten, so suggerieren sie zumindest eine punktuelle Einsicht darüber, wie unsere Welt gerade tickt.

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