De-Processing – Paradigmenwechsel in der Lebensmittelindustrie

Die Lebensmittelindustrie steht weltweit vor neuen Herausforderungen: Sich individuell ausdifferenzierende Konsumentenbedürfnisse und das steigende Bewusstsein für Lebensmittelqualität verlangen Produktionsprozesse, die das alte Paradigma der industriellen Fertigung (schneller, billiger, mehr) hinter sich lassen. Ein gekürzter Auszug aus dem „Food Report 2018

Von Hanni Rützler

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Lebensmittelqualität: Ein elastischer und dynamischer Begriff

Lebensmittelqualität ist ein gesellschaftliches und mediales Dauerthema – die Kritik an der Nahrungsmittelindustrie ebenso. Insbesondere Produkte mit einem höheren Verarbeitungsgrad, bestehend aus verschiedenen, selten ausreichend deklarierten Ausgangsprodukten (Stichwort: Herkunft) und für Konsumenten – im doppelten Sinn – oft unverständlichen Zusatzstoffen, werden – befeuert durch skandalisierende Medienberichte – besonders kritisch beäugt: Weil die chemischen Bezeichnungen nicht verstanden werden und weil deren Funktion bei der Herstellung von Nahrungsmitteln für Laien meist nicht nachvollziehbar ist.

Der etwas andere Blick, den die Generation Y, geboren in den frühen 1980ern bis in die späten 1990er Jahre, auf Lebensmittel wirft, macht zunächst vor allem eines deutlich: Lebensmittelqualität ist kein statischer, sondern ein sehr dynamischer Begriff. Das heißt: Jede Zeit hat ihre eigene Vorstellung von „Qualität“. Viele Markenprodukte aus industrieller Fertigung wurden von großen Teilen der Gesellschaft zunächst als Segen wahrgenommen, und sie bilden noch heute das Fundament unserer alltäglichen Esskultur. Im Zuge der fortschreitenden Individualisierung differenzieren sich die Geschmacks- und Qualitätsanforderungen an Lebensmittel jedoch immer mehr aus, so dass es klassischen Markenprodukten immer seltener gelingt, eine Mehrheit der Konsumenten anzusprechen.

Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2016 stellen Konsumenten in Deutschland an hochwertige Lebensmittel vor allem folgende Anforderungen: Sie sollen frisch und unbehandelt sein (51 Prozent), frei von künstlichen Zusatzstoffen (42 Prozent), gesund und nährstoffreich (42 Prozent), natürlich geschmacksintensiv (36 Prozent) und aus regionaler Herstellung stammen (30 Prozent).

DE-Processing steht für Qualität

Das Küchenregal-Prinzip

Die Industrie reagiert auf diesen Wandel mit einem neuen Spin. Die Strategie lautet: De-Processing. Sie kulminiert in den Schlagworten „natürlich“, „einfach“, „pur“ und verspricht, dass vor allem neue Markenprodukte – anders als die älteren Vorgängermodelle – (fast) nur mehr aus Bestandteilen bestehen, die auch in jedem durchschnittlichen Haushalt verwendet werden.

Das „gute Alte“ assoziieren die meisten mit Natürlichkeit, Reinheit und Ehrlichkeit, mit geringeren Verarbeitungsgraden, weniger Zusatzstoffen, aber auch immer mehr mit ethischen und ökologischen Kriterien (die wir primär mit Produkten aus regionaler Herkunft in Verbindung bringen). Vor allem aber auch mit einem „authentischen“, sprich „natürlichen“ Geschmack. Dennoch: Abgesehen vom kleinen Kreis bekennender Foodies, die das Kochen from scratch bewusst zelebrieren, wollen auch kritische Konsumenten nicht auf die Vorteile verzichten, die wir der Nahrungsmittelindustrie und ihren Produkten verdanken: dass sie sicher sind, ausreichend haltbar und die Zubereitung in der Küche einfach und schnell geht.

BEST PRACTISE: Practice: Brox - Das Comeback der Knochenbrühe

Hier knüpfen Unternehmen wie das Berliner Start-up Brox an, die mit der Knochenbrühe einen Klassiker der traditionellen Küche aus Omas Zeiten in die Moderne transportieren. Zentrale Ausgangsprodukte sind Bio-Knochen von Weiderindern, die mit Gemüse und Kräutern 18 Stunden lang schonend in Quellwasser ausgekocht werden. Brox ist nicht nur die ideale Basis zum Kochen, für Suppen und Soßen, sondern auch eine schmackhafte Alternative zum Coffee-to-go. Nicht nur für Paleo-Diätisten. Trendig verpackt kann die konservierungsstofffreie Brühe im Kühlschrank gut gelagert werden und lässt jeden modernen Brühwürfel alt aussehen. www.bonebrox.com

Hard Times for Big Food

Auf die Wünsche von Konsumenten, die Lebensmittelqualität immer stärker als Synonym für Lebensqualität verstehen, werden in Zukunft vor allem junge Unternehmen und neue Marken besser und glaubwürdiger eingehen können: Sie starten ohne die Last traditioneller Marken, die oft in ihrem symbolischen Kontext gefangen bleiben. Das heißt, es ist für etablierte Marken viel schwieriger, sich als „neu“, als „jetzt anders“ zu verkaufen. Und nicht immer sind entsprechende Rezepturveränderungen auch von kommerziellem Erfolg, sprich von der Akzeptanz der Kunden gekrönt: Stammkunden vermissen mitunter den gewohnten Geschmack, und neue Kunden bleiben auch nach Rezepturadaptionen meistens skeptisch. Junge Unternehmen müssen hingegen ihr Image nicht ändern, müssen nicht Glaubwürdigkeit zurückgewinnen. Und sie müssen nicht den Massengeschmack treffen, sondern können mit überzeugenden Produkten gezielt ihre Zielgruppen bedienen und eine authentische Markenidentität entwickeln. In den USA hat sich für diese neuen Unternehmen, für diese neuen Nahrungsmittelproduzenten auch schon ein neuer Begriff etabliert: The Natural Food Industry.

BEST PRACTISE: Konservierung – Einwecken statt E-Nummern

Das Bedürfnis nach geringer verarbeiteten Nahrungsmitteln macht auch traditionelle Methoden der Haltbarmachung wie das Einwecken wieder attraktiv. Hier treten Einweckprofis wie Albrecht Schäfer auf, der mit seiner Aromaküche im Glas an die Ursprünge des Kochens anknüpft, Nahrungsmittel schonend und trotzdem schmackhaft ohne Zusatz- und Farbstoffe, ohne künstliche Aromen und Haltbarkeitsmittel zu verarbeiten und – angereichert durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse (Niedertemperaturgarverfahren) – zu konservieren. Viele seiner Produkte bietet Schäfer auch ohne Glukose und Laktose an.

Ein gekürzter Auszug aus dem „Food Report 2018

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Dieser Artikel ist in folgenden Dossiers erschienen:

Dossier: Food

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Food-Trends zeigen Lebensgefühle und Sehnsüchte auf, bieten Orientierung und Lösungsversuche für aktuelle Problemstellungen. Getragen werden sie immer von Menschen. Geprägt aber werden sie von den tiefgreifenden, globalen und langfristig wirksamen Veränderungen der Megatrends. Food-Trends können deshalb als „Barometer“ fungieren: An ihnen lassen sich Entwicklungen ablesen, die sich tiefer in die Gesellschaft ausbreiten.

Folgende Menschen haben mit dem Thema dieses Artikels zu tun:

Hanni Rützler

Hanni Rützler ist die Expertin für Food-Trends. Sie schafft in ihren Keynotes, ihrem Food Report und in Projekten Orientierung für Food&Beverage-Unternehmen.