Meet Food – Die neue Nähe zum Produkt

Immer mehr Konsumenten wollen ihre Lebensmittel nicht nur „verbrauchen“, sondern „erleben“. Auf das wachsende Interesse, Herstellung und Qualität auch sinnlich erfahren zu können, reagieren Produzenten mit neuen Angeboten, die Begegnungen ermöglichen. Ein gekürzter Auszug aus dem „Food Report 2018

Von Hanni Rützler

Kumpel & Keule / www.kumpelundkeule.de

Vom unsichtbaren Essen zu neuen sinnlichen Esserfahrungen

Wir leben in einer Zeit, in der sich immer mehr Menschen besonders dafür interessieren, was sie essen, woher ihr Essen kommt, woraus es sich zusammensetzt, wie es verarbeitet und zubereitet wird. Und vor allem: wie es schmeckt. Das ist neu und in gewisser Weise Ausdruck eines Gegentrends zum „unsichtbaren“ Essen, das in Form klassischer Convenience- oder sonstiger verpackter Produkte seit vielen Jahren einen großen Teil des Lebensmittelangebots in unseren Supermärkten ausmacht.

Sind um die Jahrtausendwende nicht nur die kleinen Fleischerläden, sondern auch viele – zunächst noch von gelernten Metzgern betriebene – Fleischtheken aus den Supermärkten verschwunden, in denen Konsumenten noch wahrnehmen konnten, wie ihr Schnitzel vom Schlegel bzw. von der Oberschale geschnitten oder ihr Filet kunstfertig vom Knochen gelöst wurde, so gab es Fleisch – und auch viele andere Produkte – danach oft nur mehr kleinteilig abgepackt, vorgeschnitten, mitunter auch schon mariniert und in kontrollierter Atmosphäre verpackt zu kaufen. Kopf, Füße und andere „unansehnliche“ Teile, die Hinweise auf Frische und Qualität geben konnten, waren verschwunden. Konsumenten konnten, ohne das Etikett zu lesen, kaum mehr feststellen, um welches Teil es sich in der plastikverschweißten Styroporschale handelt, und oft nicht einmal, von welchem Tier es stammt. Nicht viel anders bei vielen Gemüsen (ohne Blätter) oder Obst (vorgeschnitten).

Look, look, come closer!

Der Foodie aber möchte Lebensmittel wieder sinnlicher wahrnehmen. Er kauft Obst, Gemüse, Fleisch und Backwaren daher so oft wie möglich auf dem Wochenmarkt, vom Hof oder in Spezialgeschäften ein: Fleisch und Wurst beim Metzger, Brot und Brötchen beim Bäcker, Wein direkt beim Winzer oder in der Vinothek etc. Er möchte wieder „näher ran“ ans Produkt, er möchte schauen, riechen, probieren, die Atmosphäre der Produktionsstätte einfangen, die Produzentinnen kennen lernen, mit ihnen über die Herstellung sprechen, mehr über die Verarbeitungsschritte und ideale Zubereitungsarten in Erfahrung bringen. Das alles kann ihm der traditionelle Supermarkt nicht bieten. Immer mehr Produzenten und innovative Vertriebe setzen daher auf die Möglichkeit, den Konsumenten mehr Einblick in ihre Arbeit zu gewähren, sie auch an der Herstellung – nicht immer nur in beobachtender Form – teilhaben zu lassen. Sie inszenieren sich und ihre Tätigkeiten, um das Produkt ins rechte Licht zu rücken. Und damit auch dem Erfahrungswissen ihrer Kunden wieder auf die Sprünge zu helfen.

BEST PRACTISE: Kumpel & Keule - Die transparente Metzgerei

Jede gute Wurst, davon sind der „Wurstelier“ Hendrik Haase und seine Metzger überzeugt, fängt bei glücklichen Tieren an. Das Fleisch der Tiere, die das Team von Kumpel & Keule in der Markthalle Neun mitten in Berlin verarbeitet, kommt daher nur von ausgewählten und von den Metzgern regelmäßig besuchten Produzenten. Von allen weiteren Verarbeitungsschritten können sich die Kunden selbst ein Bild machen. In ihrer – im wahrsten Sinne – „gläsernen“, weil komplett verglasten Metzgerei kann man den Kumpels beim Zerlegen und Verwursten jeden Tag über die Schulter schauen. Einkaufen in der Markthalle Neun wird so auch zu einem sinnlichen Erlebnis, das einmalige Einblicke in das Fleischerhandwerk bietet. www.kumpelundkeule.de

Die neue Nähe zwischen Handwerk, Produkt und Konsument

Durch die gekonnte und „meisterliche“ Inszenierung vor allem von Herstellungsprozessen werden in Zukunft wieder intensivere Verknüpfungen zwischen dem Produkt, dem Produzenten und dem Kunden entstehen. Und dabei spielt das Handwerkliche, auch dort, wo es mit viel Technik unterstützt wird, eine große Rolle. Denn um mit Inszenierungen punkten zu können, wird mehr benötigt als schöner Schein. Sie müssen uns als Konsumenten dabei unterstützen, Erfahrungen auf unterschiedlichen Ebenen machen zu können. Und das heißt, die einzelnen Elemente bei der Präsentation von Lebensmitteln so zu orchestrieren, dass sie gleichzeitig mehrere Sinne ansprechen und damit in Erinnerung bleiben. Nur so erlangen sie Zutritt zu unserem Langzeitgedächtnis, und nur so können sich Informationen in Wissen verwandeln. „Richtige“ Foodies nehmen sich – anders als „Spontan-Hedonisten“ – auch die nötige Zeit dafür.

BEST PRACTISE: Lingenhel - Die Stadtkäserei zu Wien

Johannes Lingenhel bietet mitten in Wien eine Kombination von Shop, Gastronomie und Handwerk rund um den Käse. Denn der Genuss beginnt nicht erst beim Verkosten, sondern bereits bei der Herstellung. Diese ist ein wahres Erlebnis – und soll den Städtern nicht vorenthalten werden. Die Nähe zum Produkt kann man in der Werkstatt bei Käsekursen mit allen Sinnen erfahren: „Mit beiden Armen im lauwarmen Käsebruch, dem Duft von frischer Molke in der Nase, der Ruhe beim Rühren und dem Staunen über die wundersame Verwandlung von bester Milch in herrliche selbstgemachte Käsekreationen.“ Dies können Käsefans einmal im Monat in den sechsstündigen Kursen unter Anleitung von Robert Paget und Johannes Lingenhel ausprobieren. Auch ohne alpine Sennerei-Atmosphäre ein unvergessliches Erlebnis. www.lingenhel.com

Resonanz durch sinnliche Verführung

Es geht dabei aber nicht nur darum, Emotionen zu wecken oder neue Bedürfnisse zu schaffen. Es geht darum, über sinnliche Verführung Sinn zu manifestieren, Zusammenhänge klarzumachen, Geschichten – über Produkte und Produzenten – zu erzählen, Wissen zu vermitteln und – über Zertifikate, Gütesiegel und Kennzeichnungen hinaus – Vertrauen herzustellen. Kurz: Resonanz zu erzeugen und zu erfahren. Denn beim Essen dreht es sich immer auch um soziale Beziehungen. Und das betrifft nicht nur die sprichwörtliche Tischgemeinschaft, sondern auch die Beziehungen zwischen Produzenten und Konsumenten. 

BEST PRACTISE: Zotter - Das Schoko-Laden-Theater

Vielfalt, Qualität, Kreativität, Nachhaltigkeit und 100 Prozent bio und fair lautet das Versprechen der renommierten österreichischen Schokoladenmanufaktur Zotter. Rund um den Betrieb ist in den vergangenen Jahren eine bunte Erlebniswelt entstanden, die kleinen und großen Schleckermäulchen anschaulich die weite Welt der süßen Verführung erklärt. Die Besucher des Schoko-Laden-Theaters in Riegersburg in der Steiermark erfahren, wie die Kakaobohnen geröstet werden, das Schokoladenpulver feingewalzt wird und wie aus dem Pulver beim Conchieren eine aromatische, schmelzende Schokomasse wird. Die Entstehung von Schokolade kann mit allen Sinnen erfahren werden: Eine Filmreise führt zu den Kakaobauern in Lateinamerika, frisch geröstete Kakaobohnen aus vielen unterschiedlichen Herkunftsländern können ebenso verkostet werden wie die weiteren Zwischenschritte der Schokoladenproduktion. www.zotter.at

Meet Food: Trendprognose

Je intensiver sich Konsumenten mit Kalorien und Vitaminen, Zusatzstoffen und Allergenen, Fetten und Kohlenhydraten beschäftigt, also ihr Ernährungswissen optimiert haben, desto mehr haben sie die Gelegenheiten vernachlässigt, ihr kulinarisches Erfahrungswissen zu erweitern. Foodies oder solche, die es gerne werden möchten, wollen Lebensmittel aber wieder mit allen Sinnen wahrnehmen. Sie wollen wieder „näher ran“ ans Produkt und den Produzenten über die Schultern schauen. Für Produzenten eröffnet sich damit die Chance, ihre handwerkliche Meisterschaft zu zeigen, die Qualität ihrer Produkte anschaulich zu vermitteln und damit ein neues Vertrauensverhältnis aufzubauen.

Ein gekürzter Auszug aus dem „Food Report 2018“

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Dieser Artikel ist in folgenden Dossiers erschienen:

Dossier: Food

Dossier: Food

Food-Trends zeigen Lebensgefühle und Sehnsüchte auf, bieten Orientierung und Lösungsversuche für aktuelle Problemstellungen. Getragen werden sie immer von Menschen. Geprägt aber werden sie von den tiefgreifenden, globalen und langfristig wirksamen Veränderungen der Megatrends. Food-Trends können deshalb als „Barometer“ fungieren: An ihnen lassen sich Entwicklungen ablesen, die sich tiefer in die Gesellschaft ausbreiten.

Folgende Menschen haben mit dem Thema dieses Artikels zu tun:

Hanni Rützler

Hanni Rützler ist die Expertin für Food-Trends. Sie schafft in ihren Keynotes, ihrem Food Report und in Projekten Orientierung für Food&Beverage-Unternehmen.