Die aktuelle Startup-Kultur steht stellvertretend für unseren kurzsichtigen Umgang mit digitaler Technologie. Im Fokus stehen schnelle Erlöse, echte Reflexion bleibt auf der Strecke.
Von Alexa Clay (01/2017)
Die aktuelle Startup-Kultur steht stellvertretend für unseren kurzsichtigen Umgang mit digitaler Technologie. Im Fokus stehen schnelle Erlöse, echte Reflexion bleibt auf der Strecke.
Von Alexa Clay (01/2017)
Die Startup-Szene steckt noch in vielerlei Hinsicht in den Kinderschuhen – wir haben gerade die erste Digitalisierungswelle überlebt. Ähnlich wie die erste LSD-Generation, die mit dem dubiosem "Acid" experimentierte, haben sich Hoffnungen in Startups zu sehr auf Unternehmer und ihre zwielichtigen digitalen Plattformen verlassen, deren Ansprüche, die Welt zu verändern, nicht eingehalten wurden.
Der Wille zur "Weltveränderung" kann immer nur so effektiv sein, wie seine Anreizstrukturen. Gute Motivation ist nicht genug. Um die Startup-Kultur wirklich zu transformieren und sinnhaftere Wertschöpfungsketten zu etablieren, müssen demokratische Besitzstrukturen und Führungskulturen in der Business-DNA verankert werden. In dieser Hinsicht kann die Startup-Szene des Silicon Valley einiges von Deutschland lernen: einem Land, in dem die Vorherrschaft familiengeführter Unternehmen eine andere Perspektive auf alternative Unternehmensstrukturen bietet.
Zum Beispiel die Bosch GmbH, eines der führenden Technik- und Elektronikunternehmen: Seit 1964 ist die Bosch Stiftung der stärkste Aktieninhaber. Bestimmungs- und Profitrechte sind getrennt: Profite müssen entweder reinvestiert oder gespendet werden und Wahlrechte können nicht verkauft werden, sondern müssen in der Firma verbleiben. Abgesehen von den 8 Prozent, die die Bosch-Familie am Unternehmen besitzt, ist die Firma Bosch zugleich ihr eigener Eigentümer.
Noch älter und einflussreicher ist Carl Zeiss, ein Unternehmen mit 39.000 Angestellten und 6 Milliarden Euro Jahresumsatz. Der Gründer Ernst Abbe (1840–1905) war überzeugt, dass der Wert der Firma und der Profit, den sie erwirtschaftet, ein Produkt ihrer Mitarbeiter ist. Um dies zum Ausdruck zu bringen, wollte er eine Firmenstruktur etablieren, in der die Firma sich über ein Stiftungsmodell selbst besitzt (also nicht verkauft werden kann) und die sicherstellt, dass sämtliche Profite an Universitäten gespendet werden. Abbes hybrider Zugang vermischt privatwirtschaftliche und gemeinnützige Besitz-Schemata – eine heikle Gratwanderung zwischen dem marxistischen Milieu des späten 19. Jahrhunderts und dem kapitalistischen Traum vom Privateigentum.
In einer Zeit, in der viele die Potenziale von Plattform-Modellen erforschen, können deutsche Ansätze eine Orientierungshilfe sein. Die Tatsache, dass Plattformen wie Facebook und Uber ihren Wert zum Großteil durch ihre Kunden generieren, die Kunden aber keinen Zugang zu diesem Wert oder Eigentum haben, beginnt sich ungerecht anzufühlen. Um dies zu ändern, arbeitet der junge deutsche Unternehmer Armin Steuernagel an der Idee eines "Rooted Internet" (in ironischer Anlehnung an das berüchtigte Rocket Internet): ein "verwurzeltes" Internet, in dem sich digitale Startups zu einer Reihe wegweisender Eigentumsrichtlinien verpflichten. "Alle, die in einer Firma aktiv mitwirken, müssen Mitbestimmungsrechte haben", sagt Steuernagel. "Entscheidungen können nicht von außenstehenden Stakeholdern getroffen werden."
Steuernagel will ändern, dass wir Firmen als externe spekulative Finanzobjekte sehen und nicht als Einheiten, die ihre Profite für ihre eigenen Interessen nutzen. Sein Fazit: "Wir wollen Profite intern investieren, aber die Rechtsform lässt das nicht zu. Firmen existieren nur, um den Shareholdern maximalen Gewinn abzuwerfen." Um sich zu verändern, müssen Startups den Gründern und der ganzen Nutzergemeinde erlauben, Kontrolle innerhalb der Firmen auszuüben, um so die Vision eines Unternehmens zu sichern.
In einer Welt, in der Risikokapitalinvestoren fast die Hälfte aller Startup-Gründer aus der eigenen Firma verdrängen, wird Eigentum zu einem flüchtigen Gut und führt dazu, dass Unternehmen ihren Gründungsgedanken zugunsten reiner Profitmaximierung aufgeben. Um dieses Problem anzugehen, entwickelt das neuseeländische Kollektiv Enspiral das von der Occupy-Bewegung inspirierte Open-Source-Software-Tool Loomio. Es befasst sich mit der Idee der "Capped Returns": Unternehmer und Investoren können zwar investieren, sich selbst aber keine überproportional hohen Gewinnanteile auszahlen.
Loomio unterscheidet sich von traditionellen Startups, indem es aus einer hybriden DNA hervorging, in der sich Softwareentwickler und Aktivisten für soziale Gerechtigkeit trafen. Denn ebenso wichtig wie der Grundgedanke eines Startups ist auch die kulturelle und soziale Vielfalt der Gründer. Diese kann den Entwicklungsverlauf der ganzen Szene maßgeblich beeinflussen. Wenn Menschen mit grundverschiedenen Hintergründen, die als Gemeinschaft oder Nutzer ganz eigene Bedürfnisse haben, Firmen gründen, entwickeln diese eine komplett neue Serviceorientierung.
Joshua Vial, ein aktives Mitglied von Enspiral, schrieb neulich in seinem Blog: "Die Möglichkeiten sind endlos. Unsere Wirtschaft ist eines der mächtigsten Systeme der menschlichen Gesellschaft, und zurzeit richtet es großen Schaden an. Wenn wir die Grundsteine des Systems so umbauen, dass sich der Sinn der Ökonomie von der Bereicherung Einzelner zur Lebensverbesserung aller verschiebt, wären die Folgen für die ganze Welt gewaltig."
Doch wie bringt man privilegierte Mainstream-Unternehmer dazu, die Konsequenzen ihrer Aktionen zu erkennen und höhere Ziele als die persönliche Profitmaximierung zu entwickeln? Durch Kurse in "Kritischer Theorie" und existenzielle Weiterbildungen für Programmierer? Was wäre das passende Business-Modell, um mehr soziale und ökonomische Gerechtigkeit in führenden Unternehmern zu verankern?
Ein Player, der die traditionelle Unternehmensführung verändern will, ist Etsy.org, die neue Stiftung von Etsy, die das Konzept der "regenerativen Geschäftsführung" nutzt. Als Etsy an die Börse ging, verfügte die Stiftung, die Anteile an der Firma hält, plötzlich über ein beachtliches Arbeitsbudget. Nach kurzer Bedenkzeit beschlossen Matt Stinchcomb und Erica Dorn, die Leiter der Stiftung, die traditionelle Unternehmensführung zu verändern: "Es gab einen Hunger nach einer Unternehmenskultur, die nicht auf Agentur-Pitches, schneller Skalierung, Nachbildung und Disruption aufbaut", so Erica Dorn. "Also haben wir eine Ausbildung entwickelt, die dem Herzen folgt – fokussiert auf die Rolle des Unternehmers als ökonomischer Entwickler und Community Leader."
"Unsere Erfahrungen haben uns gezeigt, wie man viele Unternehmer aus den verschiedensten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Hintergründen zusammenbringt und damit ein funktionierendes Ökosystem aufbaut, das Empathie und Kollaboration erhöht und zur Gestaltung einer umfassenderen, stärker Anteil nehmenden Ökonomie beiträgt." (Erica Dorn, Leiterin von Etsy.org)
Der Bildungsplan, den Etsy.org fördert, konzentriert sich auf ganzheitliche Themen wie persönliches Wachstum und das Verständnis natürlicher und sozialer Systeme. Solche Ausbildungsprogramme sind wichtige Komponenten zur Erhöhung des unternehmerischen Bewusstseins – ebenso wie rechtliche Mittel, die helfen, die Kontrolle über das Unternehmen zu erhalten und zu verhindern, dass ein Geschäftsmodell sich vom eigentlichen Ziel entfernt. Auf diese Weise kann ein nachhaltigerer Startup-Sektor wachsen. Und möglicherweise wird auch das Silicon Valley auf diese unkonventionelleren Geschäftskulturen aus Oakland, Berlin, Brooklyn oder Wellington eingehen müssen, die neue Arten von Besitz und Unternehmensführung praktizieren.
Zu oft läuft es leider umgekehrt. Das Silicon Valley hat eine ganze Kette von Nachahmern an anderen Orten geschaffen – Silicon Allee in Berlin, Silicon Roundabout in London, Silicon Prairie in Nebraska, China Silicon. Eine Startup-Kultur, die von rasantem Wachstum geprägt ist, wird zu einer neuen Art des Kulturimperialismus, inklusive der dazugehörigen "Evangelists": Investoren und Unternehmer, die für schlanke Startup-Methoden, Wachstumstricks und das Hochgeschwindigkeits-Glasfasernetz Google Fiber werben. Doch diese Silicon-Valley-Methoden unterdrücken die lokale Kultur.
Anstatt krampfhaft zu imitieren, sollten Städte versuchen, eigene Inspiration in ihren Unternehmern zu wecken. Griechenland kann zum Beispiel auf seine lange Tradition der Demokratie und der radikalen Anarchie zurückgreifen, um sie für zivile Technologien zu nutzen. Devon in Großbritannien ist eine der weltweit ersten "Transition Towns", eine "Stadt des Wandels", die daran arbeitet, energieunabhängig zu werden und dabei mit einer Vielzahl kleiner Handwerksbetriebe punkten kann. Sogar eine Stadt wie New York versucht, ihre unternehmerische Identität zu festigen und sich von Kalifornien zu unterscheiden, indem sie stärker auf Kultur, Mode und Finanzen fokussiert.
Das Zulassen verschiedener unternehmerischer Identitäten wird eine heterogenere Startup-Szene entstehen lassen, die stärker im Kontakt mit lokalen Werten steht und dezentralisierte Hegemonien zulässt. Heute werden erfolgreiche Kleinunternehmen durch Risikokapital gegründet, um den Gründern und Investoren einen Ausstieg mit hohem Gewinn zu ermöglichen. Diese "Exits" sind am profitabelsten, wenn die Firma an ein Großunternehmen verkauft wird. In diesem Sinne sind viele Startups nur ausgegliederte Innovationsabteilungen der "Big Player". Dieses Vorgehen fördert einen zentralisierten, monopolistischen Markt. In einigen Branchen ist diese Art der Fusion schon Norm.
Deutschland hatte nach dem zweiten Weltkrieg Zehntausende Lebensmittelhändler – heute kontrollieren fünf Firmen mehr als 80 Prozent des Nahrungsmittelmarktes. Der Massenzusammenschluss von Unternehmen fördert eine Arbeitskultur, in der nur Wachstum zählt und in der man nur den Investoren gegenüber verantwortlich ist, nicht aber den eigenen Mitarbeitern, der lokalen Bevölkerung oder den sozialen Langzeitauswirkungen. Diesbezüglich sind wir komplett kurzsichtig geworden.
Wenn wir das Internet als Erlösung verstehen, verlieren wir den Blick für das Wesentliche – für den menschlichen Aspekt. Unternehmertum sollte die Anwendung von technologischen Werkzeugen zur Förderung menschlichen Wohlergehens sein. Viel zu oft wird dieser Fortschritt aber nur im Eigeninteresse verwendet. Gründer sollten ihre Startups "Kosmos-sicher" machen: Das Universum ist 14,6 Milliarden Jahre alt, egoistische Selbstbereicherung kann deshalb keine echte Strategie sein, um die kurze Zeit auf Erden zu nutzen. Denk an das Vermächtnis, das du hinterlassen willst, und wie du zum Erblühen der Menschheit beitragen willst – und dann erschaffe die Mittel, um das zu erreichen.
Innerhalb der Startup-Szene findet derzeit ein Culture Clash statt, ein Kampf zwischen jenen Gründern, die die Welt zum Positiven verändern wollen, und solchen, die nur auf der Erfolgswelle der Tech-Blase mitreiten wollen. Als Konsumenten sind wir beeinflusst und überwältigt von den Lieblings-Technologien der diversen Startups und ihren Push-Benachrichtigungen, abstrakten Online-Beziehungen und süchtig machenden Nutzerdesigns.
Beim Entwickeln einer humaneren Technik geht es darum, die Digitalisierung vieler Schnittstellen so einzuschränken, dass sie uns nicht zu Zombies machen. Eine Voraussetzung dafür ist das Beharren auf einem geduldigeren Kapitalinvestment, das nicht auf Hardcore-Kapitalismus beruht. Und es gilt, eine neue, umfassendere Tech-Szene zu entwickeln, die Vielfältigkeit schätzt – und die uns ermutigt, mit sozialer Empathie in Menschen zu investieren und in Machtpositionen mehr Entscheidungsfreiheit an die Angestellten abzugeben.