Brexit – oder: Wie man Zukunftsentscheidungen trifft (not)

Er ist amtlich, der Brexit. Großbritannien verlässt nach langem Hin und Her tatsächlich die Europäische Union. Was bleibt, sind die Erinnerung an einen ermüdend langen, lähmenden, enorm kostspieligen, chaotischen Prozess. Ein Ausgang, an dem eine völlig ungewisse Zukunft wartet. Und die Erkenntnis: So trifft man keine strategischen Entscheidungen, liebe Briten.

Eine systemische Betrachtung des Brexits von Raphael Shklarek

Bild: Pixabay

Die Überraschung war durchaus groß, als die Briten vor dreieinhalb Jahren für „leave“ votierten und damit ihren Brexit beschlossen. Beim Gedanken an die dreieinhalb Jahre seither, summt einem unweigerlich „Should I stay or should I go now“ in den Ohren. Der Gassenhauer der – no na – britischen Punkrocker The Clash dient als Hymne des Hickhacks zwischen UK und EU: „If I go, there will be trouble. And if I stay it will be double.“

Die Brexit-Müdigkeit war zuletzt stark ausgeprägt, auf der Insel genauso wie in Brüssel und im Rest Europas. Ende Jänner 2020 freuen sich die Brexiteers, der Rest ist mehr oder weniger traurig, auf gut Wienerisch würde man sagen: Baba und foi ned. Doch alle sind froh, dass das Ding nun durch ist. Zumindest in diesem Punkt ist man geeint.

Bleiben oder gehen – Die falsche Zukunftsfrage

Wie konnte es zur Brexit-Entscheidung kommen? Wie konnte ein so komplexer Sachverhalt mit einer schlichten Ja-Nein-Frage entschieden werden? Und wie hätte es anders laufen können? Werfen wir einen systemischen Blick auf das Thema, so wie wir es am Zukunftsinstitut mit unserer Beratungsmethode Future Room regelmäßig in Organisationen und Unternehmen machen.

Vor dem Hintergrund, dass 2016 eine Welle an Terrorismus durch Europa zog, die Flüchtlingskrise in vollem Gange war und die USA den wohl populistischsten Wahlkampf der jüngeren demokratischen Geschichte führte, stand die Integrität der Europäischen Union auf dem Spiel. Das Vereinigte Königreich blickte einem Referendum entgegen, in dem es galt, abzustimmen: In der EU bleiben oder austreten. Ja oder nein. Maximal einfache Antworten auf eine äußerst komplexe Frage. Zu einfach.


Die systemischen Dynamiken widersprechen einer solch binären Herangehensweise, jedoch schienen die Silos der politischen Ideologien und die Zukunftsangst in der Bevölkerung damals eine ganzheitliche Lösung unmöglich zu machen. Angenommen, Realpolitik hätte den Anspruch, ihrem Mandat nachhaltig und integer gerecht zu werden ... wir hätten uns gewünscht, die Entscheiderinnen hätten sich nicht auf ihre Ich- und Wir-Inseln zurückgezogen, sondern in den Future Room. Dort hätten wir das Vereinigte Königreich und seine Rolle innerhalb der EU und der Welt systemisch beleuchten können. Angefangen mit der Zukunftsfrage. Diese hätten wir in einen strategisch relevanteren und offeneren Rahmen gesetzt, beispielsweise:

„Was ist in Zukunft die Rolle des Vereinigten Königreichs in einer vernetzten Welt?“

Komplexität benötigt eine Synthese der verschiedenen Dynamiken. Politik im Allgemeinen – und populistische Politik im Speziellen – möchte jedoch das Gegenteil erreichen. Der Dialog, den wir medial beobachten konnten, zeigte, wie aktiv mit den Blind Spots der Bevölkerung gespielt wurde. Anstatt Sie zu beleuchten, wurden sie bewusst im Dunkeln gelassen.

Das Spiel mit den Blind Spots

Nehmen wir ein Beispiel: Geld, welches in die EU fließt, soll nach dem Brexit in den National Health Service fließen. Dabei handelt es sich um eine falsche Äquivalenz zwischen illoyaler Allokation von Geld für Fremdkontrolle anstatt Geld für die Gesundheit „unserer Britinnen“. Es ist verständlich, dass Bürgerinnen allgemein in ihrem Alltag keine Finanzierungsanalysen vornehmen, um zu realisieren, dass man ihnen hier ein Luftschloss verkauft. Die wachsende Komplexität überfordert viele, was der reaktionären Politik den Weg ebnet. Mit Versprechen wie „Great Again“ und Mythen einer glorreichen Vergangenheit befeuert die Politik die emotionale Bindung an die nationale Identität, jedoch lässt man völlig außen vor, dass es sich bei Großbritannien um eine Insel handelt, welche vor der EU ein globales Netzwerk an extraktiven Ressourcen besaß. Die EU und die sukzessive Dekolonisierung der Welt bedeutet, dass das Vereinigte Königreich keineswegs zu dieser „glorreichen“ Vergangenheit zurück kann, sondern im schlimmsten Fall allein dasteht und riskiert, europäische Firmen und Investoren zu verjagen.

Die zentralisierte Macht in England verstellte dem öffentlichen Diskurs den Blick darauf, dass Schottland und Irland ebenso EU-Mitglieder sind. Der Norden Irlands wird eine Grenze mit der Republik Irland und somit mit der EU teilen. Damit riskiert England ein weiteres Referendum zur Unabhängigkeit in Schottland und möglicherweise eine Wiedervereinigung Irlands. Diese Blind Spots resultierten aus der gleichen Überheblichkeit und Kurzsichtigkeit, welche die Brexit-Parteien bei allen, für die Entscheidung relevanten Themen, an den Tag legten. Anstatt die Blind Spots zu beleuchten und so neue Perspektiven auf Chancen und Potenziale zuzulassen, wurden die bereits vorhandenen Perspektiven verfestigt.

Das Modell der „Lazy 8“, auch „Adaptive Loop“ genannt, kommt aus der Resilienzforschung und besteht aus der horizontalen Achse „Institutionalisierung“ und der vertikalen Achse „Ressourcen“. Das Vereinigte Königreich zu Zeiten des Brexit befindet sich hoch im rechten Quadranten, kurz vor einer vermeintlichen Krise. An diesem Punkt wollen viele Organisationen den Status Quo aufrechterhalten, jedoch schlagen die Brexit-Parteien vor, aufgrund der „Weak Signals“, die sie sehen, von der EU loszulassen.

Um wieder ins neue Lernen zu kommen und eine neue Vision zu generieren, müsste die Organisation seiner eigenen Verfasstheit ehrlich gegenüber stehen und realisieren, wohin sie möchte und was es dafür konkret zu tun gibt. Tatsächlich befindet sie sich in einem Trial-and-Error-Prozess, der darin besteht, einen Protodeal mit der EU zu generieren, um sowohl unabhängig als auch stark im Binnenmarkt agieren zu können. An diesem Punkt können Entscheidungen getroffen werden, die wieder zu einem Etablieren und einem generellen Hoch führen. In der Brexit-Diskussion wird klar, dass sich verschiedene Fraktionen der Organisation anders verorten würden. Viele der linken Parteien wollen den Status Quo erhalten und selbst jene, die zustimmen, dass Veränderung kommt ob man wolle oder nicht, haben eine ganz andere Vision der Adaption, die dazu nötig ist.

Denkmuster dokumentieren die Spaltung

Machen wir das Gedankenexperiment und transferieren den öffentlichen Diskurs in den Future Room. Die darin entdeckten, geclusterten Denkmuster ließen sich stilisiert so zusammenfassen:

  • Great Again!
  • So oder so?! – ein Konflikt Stadt vs. Land, Anywheres vs. Somewheres
  • Breaking Point! – Wir müssen unsere eigenen Grenzen schützen und uns nicht aus Brüssel fremdbestimmen lassen.
  • Sind wir Europäer?

Es ist besonders auffällig, wie stark Identität und Paradoxiestress dazu führen, dass ein und derselbe Sachverhalt diametral unterschiedlich wahrgenommen wird. Manche wollen Protektionismus und sich verschließen. Diese Fraktion denkt, dass solche Maßnahmen die Integrität der Nation sichern und Investitionen wieder heimatgesonnener werden. Die andere Fraktion schaut nach außen und sieht globale Hürden, die nur durch die Vereinigung von Nationen überwunden werden können. Oft resultieren Blind Spots nicht aus der unmittelbaren Nähe zu Themen, sondern aus Mangel an Begegnung. Eine Bürgerin vom Land, die in ihrem Leben keine Erfahrungen mit fremden Ländern, Kulturen und Menschen gemacht hat, wird tendenziell xenophober sein als jemand, der in einer multikulturellen Großstadt aufwächst.

Die Blind Spots in Gesellschaft, Wirtschaft und Markt legen die Interpretation nahe, dass es sich beim Brexit-UK um eine Organisation handelt, die kurz vor der Krise steht und kein ganzheitliches Bild der Außenräume hat. Hier hätte es einen gerichteten Dialog und Reflexion gebraucht, Klarheit über die unterschiedlichen Zukunftsbilder innerhalb der Organisation und die Auseinandersetzung mit Zukunftsthesen und Megatrends. Auf dieser Basis entsteht im Future Room das Big Picture, welches ermöglicht, verborgene Kräfte freizusetzen, das eigene Future Mindset freizulegen und die weiteren Schritt in die Zukunft zu unternehmen.

Brexit-Fehler

Das vermeintliche Angebot – im Sinne der Big-Picture-Spaces das Produkt – des Brexits ist ein souveränes, starkes Vereinigtes Königreich, vermarktet wurde es sehr stark auf Social Media und klassischen Kanälen. Es wurde im Diskurs jedoch kaum definiert, was das genau sein soll. Den größten Teil der Diskussion machte in den letzten dreieinhalb Jahren die Fachsimpelei über die organisatorische Zusammensetzung des Brexits aus, welche Deals und Formen der künftigen Kollaboration oder Isolation man eingehen wird.

Es wurden opportunistisch negative Emotionen und Grundbedürfnisse von Menschen genutzt und die Bevölkerung dadurch polarisiert. Die populistischen Brexit-Parteien haben sowohl national als auch international gewonnen, jedoch fehlt eine verbindliche Vision, die allen Bürgerinnen zugänglich ist und die nicht erst in den weiteren Jahre zeitaufwendig und teuer ausverhandelt werden muss.

Eine Synthese der Antithesen des politischen Spektrums und der sozio-ökonomischen sowie demographischen Faktoren wäre von großem Vorteil gewesen, um den kurzsichtigen und teuren Entscheidungen vorzubeugen, welche das System bislang nur weiter destabilisiert haben. Man kann argumentieren, dass dies womöglich auch nicht der Auftrag der entscheidenden Parlamentarierinnen gewesen wäre, hätten sie den Future Room herangezogen. Vielleicht hätte die noch intakte EU als Verband uns beauftragen müssen, um das gesamte System zu beleuchten und im Anschluss eine neue Vision zu entwickeln. Wir wären für beides offen gewesen.


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