Stress ist zu einem universalen Lebensgefühl geworden. Achtsamkeit allein hilft da nicht weiter. Wir müssen nicht uns ändern, sondern das System. Die gute Nachricht ist: Die mentale Revolution hat bereits begonnen. – Eine Einordnung von Lena Papasabbas.
Die Grenzen der Achtsamkeit

Stress ist das universale Lebensgefühl des modernen Menschen geworden. Der Ruf nach mehr individueller Resilienz ist eine Reaktion auf steigende mentale Belastungen: Der Anteil der Menschen, die von emotionaler oder körperlicher Erschöpfung, Müdigkeit und Schlafstörungen berichten, wächst. Dieser Stress hat seinen Ursprung nicht allein in der Arbeitswelt. Überstunden, Multi-Tasking und ständige Erreichbarkeit sind dem Wohlbefinden zwar nicht förderlich, jedoch bei weitem nicht die einzige Quelle für zunehmendes psychisches Leid.
Die Anforderungen, die heute auch in der Freizeit an das Individuum gestellt werden, ähneln denen auf dem Arbeitsmarkt: Selbstoptimierung, Wettbewerb und ständiges Vergleichen sind der Fluch der Konsumgesellschaft. Menschen nehmen sich zunehmend selbst als Ware wahr, die es zu verbessern, vergleichen, vermarkten gilt. In der Konsumgesellschaft ist das „Ich” die wichtigste soziale Einheit. Das eigene Leben und die eigene Identität wird als gestaltbar begriffen – und dadurch als optimierbar. Dies schafft durchaus Freiheiten. Nie gab es so viele Optionen, das eigene Leben nach den persönlichen Vorstellungen zu gestalten.
Doch die Freiheit der Wahl erzeugt gleichzeitig auch Druck: Wer in einer hyper-individualisierten Welt nicht glücklich und erfolgreich ist, der trägt die Verantwortung für sein Scheitern ganz allein. Riesige Wirtschaftszweige bauen auf dieser Logik auf und bieten dem Individuum unzählige Möglichkeiten, das Beste aus sich herauszuholen. Mit sich zufriedene Menschen sind dagegen schlecht fürs Geschäft. Die allermeisten Märkte sind nicht mehr auf die Grundsicherung eines guten Lebens ausgerichtet, sondern auf künstlich geschaffene Bedürfnisse, die ein künstlich geschaffenes Gefühl des Mangels voraussetzen. Diese Steigerungslogik macht vor keinem Bereich halt: Die Ansprüche an das Aussehen, den Körper, die Persönlichkeit, die Psyche, an Partnerschaft und Beziehungen, Elternschaft, die eigene Wohnung, Kleidung, Ernährung usw. werden seit Jahrzehnten in die Höhe getrieben.
Verstärkt und getragen wird diese Dynamik durch einen omnipräsenten digitalen Layer, der den gesamten Alltag durchdringt. Digitalität weist dem Individuum und all den Dingen, die es umgeben, eine neue Beurteilungskategorie zu: Die Instagramabilty, also ihre Präsentationsfähigkeit in sozialen Netzwerken, Apps und Messengern, der man sich nicht entziehen kann, selbst wenn man sich nicht auf entsprechenden Kanälen inszeniert. Über Facebook, Instagram, Tiktok, auf Websites und Apps, Bannern und Pop-ups, in Filmen, Serien, YouTube-Videos, durch Telegram und Whatsapp, auf Screens an Bahnhöfen, Innenstädten und in Flugzeugen – es ist unmöglich, sich den Bildern zu entziehen, die bestimmen, was als erstrebenswert gilt.
Die Digitalisierung hat diese Medienwelt nicht erschaffen, jedoch zu einer überwältigenden Omnipräsenz solcher Bilder geführt – und sie in die intimsten Sphären des Menschen sickern lassen. Immer geschicktere Algorithmen stimmen sie zudem immer besser auf die aktuellen Befindlichkeiten, Wünsche, Ängste und Sorgen des Einzelnen ab.
Die mentale Revolution
Im ständigen Vergleichen und Optimieren entfernen wir uns von anderen Menschen. Wir erleben weniger Resonanz. Nur Resonanz aber verbindet uns mit der Welt. Wer Resonanz erlebt, erfährt Selbstwirksamkeit und fühlt sich als Teil der eigenen Umwelt. Im Kern geht es um eine gelungene Weltbeziehung. Diese ist im ständigen Kampf gegen die eigene Mittelmäßigkeit schwer zu erlangen.
Die Suche nach der fehlenden Resonanz bestimmt laut Hartmut Rosa unser Leben: „Insbesondere spätmoderne Subjekte versuchen unentwegt, ihre Gefühle zu verstehen, ihren Körper zu spüren, harmonische Familienbeziehungen zu etablieren, sich beruflich zu verwirklichen, künstlerisch zu entfalten, spirituell weiterzuentwickeln“. Diese subtile Sehnsucht ist die Basis für die Gegenbewegung, die man unter dem Trendbegriff Achtsamkeit fassen kann. Achtsamkeit ist der große mentale Gegentrend, der in eine andere, eine bessere Zukunft weist.
Es geht dabei nicht um meditative Entrücktheit, sondern um die Rückkehr ins eigene Leben. Ein Aspekt eines achtsamen Weltverhältnisses ist das Mitgefühl. Empathie bejaht das Eigene in der Kommunikation mit dem Anderen. Achtsamkeit verzichtet auf den Rausch des Kollektivs; jene Selbstaufgabe, welche die Grundlage für den populistischen Furor ist. Diese scheinbar stille und unspektakuläre Haltung der Achtsamkeit mitsamt all ihrer Kulturtechniken ist nichts weniger als der Anfang einer mentalen Graswurzel-Revolution.
Mit Yoga, Meditation, Minimalismus und Digital Detox versuchen immer mehr Menschen der überbordenden Flut von Bildern und Informationen etwas entgegen zu setzen. Self-Care ist das Gebot der Stunde. Aus einem Konglomerat von verschiedenen achtsamen Lösungen für das Problem fehlender Resonanz ergibt sich eine neue Dynamik, die die Gesellschaft von Grund auf umformt. Postwachstum, Body Positivity, New Work und die aufstrebende Neo-Spiritualität sind alle verschiedene Facetten der gleichen Entwicklung, die Achtsamkeit zur Grundlage einer neuen kulturellen Evolution macht.
Jeden Tag jedoch begreifen mehr Individuen die Grenzen ihrer Achtsamkeitstrainings und Selfcare-Programme. Individuelle Resilienz-Bemühungen stoßen kollektiv an eine Grenze. Self-Care und Achtsamkeit können die Symptome von schlechten Strukturen nur mildern, ändern aber nichts an ihren Ursachen. Die Burnout-Raten steigen genauso schnell wie die Zahl der Achtsamkeits-Apps. Der von Dauerbeschallung und Leistungsdruck erschöpfte Geist lässt sich nicht durch noch mehr Positiv-Denken regenerieren. Der nächste Body-Positivity-Trend auf Instagram heilt nicht die gestörten Selbstbilder. Und der sinkenden Biodiversität kann der Bio-Boom nichts entgegen setzen. Die Folgen des Spätkapitalismus lassen sich nicht wegmeditieren.
Die Idee, alle Krankheit sei Folge schlechter Lebensführung, lenkt von den Verfehlungen einer globalisierten Agrar- und Lebensmittelindustrie ab; der Fokus auf das eigene Hocharbeiten vom Gender Pay Gap; und die ständige Suche nach einem noch besseren Match lockert soziale Bindungen. Auch die Grenze zwischen Coaching, Therapie und Selbstoptimierung verschwimmt. Wer nicht klarkommt, dem wird suggeriert: Du musst härter an deiner Resilienz arbeiten.
Heilsame Wir-Kultur
Doch es zeichnet sich eine Wendung ab: Statt die eigenen Coping-Mechanismen zu verfeinern, rückt die Frage nach einem besseren System in den Vordergrund: Wie lässt sich das Umfeld weniger stressig gestalten, wie kann beruflich und privat der Druck so reduziert werden, dass es nicht zur Lebensaufgabe wird, die eigene Lebensqualität zu beschützen? Wenn die Frage bisher lautete: „Wie kann ich trotz steigendem Druck zufrieden sein?”, so heißt sie heute immer häufiger: „Wie können wir zusammen den Druck rausnehmen?“
Nicht Achtsamkeit beendet die Ära der Konsumgesellschaft, sondern ein neues Verhältnis der Menschen untereinander, das auf Zugehörigkeit und Gemeinsinn setzt. Die friedliche und konkurrenzlose Ko-Existenz von Individuen macht Menschen zufrieden. In einer neuen Wir-Kultur werden die Prinzipien der Vergleichbarkeit und des Wettbewerbs schrittweise wieder ausgehebelt. Ein neuer Gemeinschaftssinn greift um sich. In der Art, wie Menschen zusammenleben – in Co-Living-Projekten, Ökodörfern, neuen Nachbarschaftsnetzwerken, Einsteiger-Kommunen und Mehrgenereationen-Häusern –, zusammen arbeiten – in Social Businesses und den vielen aufstrebenden Unternehmen, die sich der Sinn-Ökonomie verschrieben haben – sowie in neuen Formen des kritischen Konsumierens – von Sharing bis zum hedonistischen Minimalismus.
Der Mensch ist ein hoch soziales Wesen, in Krisensituationen braucht er vor allem eins: andere Menschen. Die aufstrebende Wir-Kultur verschiebt den Fokus, weg vom Ich und hin zu den zahlreichen Verbindungen des Individuums mit anderen Individuen. Das ist nicht das Ende der Individualisierung, sondern eine Weiterentwicklung in Richtung Co-Individualisierung. Ein gesundes Individuum gibt es nur in einer gesunden Umwelt. Diese positiv umzugestalten ist die Aufgabe der spätkapitalistischen Gesellschaft. Der System Change hat bereits begonnen: Mit einem neuen Menschenbild, das den Menschen wieder als Bindungswesen begreift und dadurch Raum schafft für Vulnerabilität und Schwäche. Solidarität und Empathie lösen das Paradigma der Steigerung und des Wettbewerbs ab. Das Ende des egozentrischen Zeitalters hat bereits begonnen – zum Wohle aller.
Dieser Text ist ein Auszug aus der Studie Zukunftskraft Resilienz – Gewappnet für die Zeit der Krisen.