Community Center statt Ladenfläche

Der stationäre Handel erlebt einen Rollenkollaps: „Retail as Experience“ wird als neuer Heilsbringer ausgerufen – mit welchen Konsequenzen? Ein Gastbeitrag von Marcus Naumann, Stratege im Beratungs- und Strategiestudio child.

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Die Sinnkrise des Handels verdichtet sich in einer Frage: Welche Funktion hat ein Store in einer Welt, in der Kunden die dort angebotenen Waren in größerer Vielfalt und mit wertvollen Kundenbewertungen auch online finden, bestellen und am gleichen Tag erhalten können? Man nähert sich der Antwort, wenn man sich die vier Grundregeln des Handels in Erinnerung ruft:

  1. Discovery:  den Konsumenten in den Laden bringen
  2. Show: die Produkte/Marken zeigen und inszenieren
  3. Consult : vor Ort beraten
  4. Transact: Transaktionsmöglichen bieten

Im Online-Zeitalter kommt für den Handel noch eine fünfte Regel hinzu, die den Folgen der E-Commerzifizierung Rechnung trägt:

  1. Engage: mit dem Kunden im Geschäft und darüber hinaus interagieren und eine Bindung aufbauen

Diese Regel verändert grundlegend das Gemisch, aus dem erfolgreiche Retail-Konzepte entstehen.

Mehr Engagement: Community- statt Store-Management

Der Wandel vom bloßen „Reinverkaufen“ in eine Gemeinschaft hin zur echten, aktiven Teilhabe an einer Gemeinschaft ist ein echter Paradigmenwechsel. Es geht nicht darum, Läden mit dem Web zu verbinden (Elektrifizierung), sondern einen Draht zur Gemeinschaft aufzubauen, dessen Teil der Store sein will (Digitalisierung). Nike zum Beispiel nutzt seine Online-Beziehungen, um Stadtmarathons auszurichten. Für den Kosmetikhersteller Glossy dient ein Laden als Treffpunkt für Marken-Follower aus dem Netz.

Mehr Show: Eventspace statt Regalfläche

Wer das stationäre Geschäft eher als Erlebnisort der Marke versteht, findet schnell andere Verwendungszwecke als nur Regalflächen. Ein gutes Beispiel sind die neuen Mercedes-Me Stores. Dort wird der Marke eine Heimat gegeben, die man betreten kann – und die sich irgendwann zu einem zentralen Servicehub einer On-demand-Ökonomie weiterentwickeln kann. Bei der Brillenmarke Gentle Monster aus Seoul ist Retail die dominierende Bühne, auf der die zum Teil poetischen, oft absurden Geschichten der Marke inszeniert werden. Im ersten Stock seines dreistöckigen Flagship-Stores in Seoul befindet sich beispielsweise das Quantum Project, eine rotierende Installation, die alle 25 Tage umgebaut wird: die virale Sensationskomponente des Webs als Store-Konzept.

Mehr Discovery: Verknappung als Prinzip

Wer überall alles anbietet, beraubt sich starker Abverkaufshebel. Die Basis-Kollektion kann auch in Zukunft problemlos in der unendlichen Regalfläche im Web liegen. Aber: Die verknappten und gehypten Waren sollten im stationären Handel landen und die Menschen dorthin ziehen. Ursprünglich rein digitale Marken, die ihre Produkte ganz selbstverständlich im Digitalen anbieten, zeigen das gut: Sie nutzen längst intuitiv ihre stationären Regalflächen zur Aufmerksamkeitsgenerierung.

Wie auch immer man die neuen Regeln abmischt: Umsatz pro Quadratmeter kann nicht länger die einzige Kennzahl im stationären Handel sein. Der Wandel vom Store- zum Community-Management verlangt eine griffige Definition davon, was Engagement für die jeweilige Marke bedeutet, und mit welchen Konzepten man Bindungen und Verbindungen zu seiner Zielgruppe aufbaut.

Markenverantwortliche sollten deshalb nicht mehr in Omni-Channel-Begriffen denken und glauben, dass alle Waren überall gleich verfügbar sein müssen. Stattdessen sollten Sie vorsichtig orchestrieren, wie der Warenmix im stationären Handel und im Web aufgebaut sein sollte. Mit dieser Differenzierung erarbeitet man sich fast schon automatisch ein neues Rollenbild für Retail – das dann kreativ genutzt werden kann.

Über den Autor

Marcus Naumann verantwortet die Strategie und inhaltliche Führung der Kunden bei Strategiestudios child in Frankfurt am Main. Seine Schwerpunkte liegen auf den Themen Organisationsberatung, Retail-Innovation und E-Commerce.

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